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Die Wirklichkeit
Der Zug hat eine halbe Stunde Verspätung, und als er endlich zu seinem Sitzplatz in der ersten Klasse kommt, denkt er darüber nach, den Besuch bei seiner Mutter abzublasen. Wenn es auf der Strecke nach Stockholm zu weiteren Verspätungen kommt, was meistens der Fall ist, wird er kaum rechtzeitig bei ihr sein können. Die Besuchszeit geht von fünfzehn bis siebzehn Uhr nachmittags, außer am Wochenende, an dem sie etwas großzügiger ist, und sie nur für ein paar Minuten zu treffen hat wenig Sinn. In der kurzen Zeit wird sie vermutlich nicht einmal begreifen, wer er ist, und falls ihr dieses Kunststück trotz allem gelingen sollte, wird sie mit Sicherheit wütend und unruhig sein, weil er sie so schnell wieder verlassen muss.
Aber sein Schuldballast würde durch den Besuch kleiner, was der wahre Grund dafür ist, dass er sie überhaupt besucht. Ihm ist bewusst, dass dies primitiv ist, aber das schwächt die Wirkung nicht ab.
Wenigstens einmal in der Woche, manchmal auch eine Stippvisite am Sonntag; vier Jahre ist es jetzt her, dass ihre Umnachtung begann, drei, seit sie in dem Pflegeheim draußen in Nacka gelandet ist. Ihr endgültiger Wohnsitz ist nicht billig, er ist ein guter Sohn, der seine Mutter achtet und ehrt. Immer noch, obwohl sie es nicht verdient hat und er während der verwirrten Gespräche mit ihr nie auch nur das Geringste zurückbekommt.
Mit seiner Schwester ist es anders. Linnea, fünf Jahre jünger als ihr Bruder, einst wunderschön und von hundert Freiern umschwärmt. Sie entschied sich für einen Typen aus Luleå, wurde schwanger, noch bevor sie einundzwanzig war, und zog in den Norden. Sie hatte eine Fehlgeburt, wechselte zu einem neuen Typen aus demselben Ort und bekam im Laufe der Zeit vier Kinder. Sie besucht ihre Mutter nie. Schiebt es darauf, dass sie zu weit weg lebt, eine Reise nach Stockholm würde sie mindestens zwei Tage kosten, und wenn man Teenagerkinder, Arbeit und Hunde habe, sei dafür einfach keine Zeit.
Ausgelaugt, pflegt sie zu sagen. Es laugt mich total aus, sie nur zu treffen. Du bist immer schon ihr Liebling gewesen, für mich hat sie sich nie interessiert. Glaube nicht, dass sie sich erinnert, jemals eine Tochter gehabt zu haben. Verdammt.
Der Zug hält mitten auf der Strecke in einem Fichtenwald, und den Fahrgästen wird mitgeteilt, dass man auf ein Signal warte. Franz J. Lunde greift zu seinem schwarzen Notizbuch und seinen Stiften. Anscheinend wird er reichlich Zeit haben weiterzuschreiben, und er denkt, dass er sich zumindest in einem Punkt von dem fiktiven John Leander Franzén unterscheidet. Er ist weder ein Narzisst noch ein Psychopath; ein Mensch mit dieser Ausstattung besucht nicht mehrmals im Monat seine hoffnungslose Mutter. Ein solcher Mensch liebt seine Schwester nicht, obwohl sie es gar nicht verdient hat.
So steht es um diese Dinge.