Unterwegs mit dem Seelenretter
Hermann überbringt Todesnachrichten und richtet wieder auf. Eine Reise durch die dunklen Nächte
Das Leben danach beginnt um fünf nach zehn.
Was von diesem Leben übrig blieb, halte ich in meiner Hand. Eine kleine Tüte bloß. In ihr liegt die letzte Habe der Toten von Gleis 5. Ihr Portemonnaie, ihre Zigaretten, ihr Feuerzeug. Der Ausweis im Geldbeutel offenbart, dass die Tote vor ein paar Tagen erst 30 Jahre alt wurde. Dann ihre Uhr. Das Glas über dem Zifferblatt ist zerborsten, die Zeiger sind stehen geblieben, als der Zug über die Frau fuhr. Fünf Minuten nach zehn. Der Zeitpunkt, als ihr Leben endete.
Die Tote von Gleis 5 ist ein »Personenschaden«, so sagt die Deutsche Bahn dazu, weil sich das Entsetzliche so einfacher aussprechen lässt. Die Zugführer teilen diesen »Schaden« beinahe täglich mit. Eine Durchsage wie so viele für die Fahrgäste. Dabei ist es doch eine Todesnachricht.
Ich sitze fast jede Woche in irgendeinem Zug, der irgendwo in Deutschland stehen bleibt. Meist fährt er bald weiter. Doch leider höre ich viel zu oft diese Nachricht durch die Lautsprecher meines Waggons. Ich habe mir angewöhnt, in diesem Moment zu beobachten, wie meine Mitreisenden weiterleben nach dieser »Störung«. Nach diesem Halt auf freier Strecke. Dieser Katastrophe, die uns erreicht, wenn wir uns in den Polstern derICE-Sessel zurücklehnen.
Während ein Mensch vor Sekunden zerschellte.
Viele im Waggon, denen ich zusehe und zuhöre, seufzen. Andere neben mir stöhnen jäh auf, ein paar sogar, weiter hinten, schimpfen, »wer sich denn da um Himmels Willen wieder umbringen musste?!« Und andere fragen: »Schlimm, das alles … aber hätte der nicht auch mal an seine Mitmenschen denken und sich erschießen können?« Und wieder ein anderer raunte vor Kurzem bei einem anderen Vorfall: »Na toll! Wegen dem werd’ ich meinen Termin nicht schaffen!«
So in etwa klingt das Echo auf das Ende eines Menschenlebens in einemICE. Es könnte aber auch eine S-Bahn sein oder ein Vorortzug, in dem wir mal wieder zu spät zur Arbeit kommen.
Deswegen, auch deswegen, stehe ich jetzt, ein paar Monate später, mit dieser Tüte in der Hand vor einer fremden Tür, irgendwo in München. Weil ich in diesem Buch von Schlägen des Schicksals erzählen möchte und von Tagen, nach denen nichts mehr ist, wie es einmal war. Aber auch von neuer Hoffnung. Neuer Stärke. Neuem Leben nach dem Tod.
Ich begleite dafür Menschen, die mitten in dem, was wir das normale Leben nennen, ganz plötzlich hinabfallen in das, was wir als »ganz unten« bezeichnen.
Ich werde als Reporter aber auch dabei sein, wenn diese Menschen wieder Anlauf nehmen, um ihr Leben neu zu beginnen, sich zu erheben nach dem großen Sturz. Oder wenn sie sich an diese Zeit des Aufbruchs erinnern.
Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen »Resilienz«. Gemeint ist die Widerstandskraft der Seele.
Beginnen möchte ich mit jenen »Personenschäden«, die nicht nur ein Leben beenden, sondern auch die Leben der Hinterbliebenen eines solchen »Schadens« für immer verändern. Von einem Augenblick auf den anderen ist alles anders. Ein privater Weltuntergang hat sich ereignet für ein paar Menschen, die diesen Toten kannten oder liebten. Diese untergegangene Welt bleibt uns verborgen, und wir wollen das auch so. Wir haben uns an vieles gewöhnt.
Seit aber die Mutter eines meiner besten Freunde vor drei Jahrzehnten auf einem Bahngleis aus dem Leben ging, gelingt mir das nicht mehr.
Auch dieser Beutel in meiner Hand bricht mit vielem, an das ich mich versucht hatte zu gewöhnen. Er birgt letzte Dinge. Neben mir steht Hermann Saur. Sein Leben lang schon steht er vor fremden Türen. Steht durch. Steht bei. Hält stand. Er ist von der Kriseninterventionshilfe.
Das Glück steht vor der Tür… so heißt es zumindest. Aber das stimmt nicht. Nicht,