1. KAPITEL
Ethan Hunter brauchte einen Drink.
Und zwar dringend.
Nach fünf Stunden hoch konzentrierter Arbeit am OP-Tisch taten ihm höllisch die Beine weh, und Schmerzmittel kamen für ihn nicht infrage.
„Wir gehen ins Drake’s, Ethan“, sagte jemand mit unverkennbar schottischem Akzent hinter ihm. „Willst du mit?“
Im Umkleideraum herrschte plötzlich Stille, als Ethan sich zu dem Anästhesisten Jock umdrehte. Die anderen vier Männer, die sich bis eben entspannt unterhalten hatten, waren verstummt. Anscheinend war keiner von ihnen besonders scharf darauf, dass er mitkam.
Auch Jock wirkte nicht begeistert.
Ethan konnte es ihnen nicht verdenken. Je länger die Operation gedauert hatte, umso mehr hatten ihn seine Beine gequält. Seine Laune war entsprechend. Als er versehentlich ein Instrument fallen ließ, verlor er die Beherrschung. Wütend trat er gegen die Klemme, sodass sie über den Boden schlitterte und geräuschvoll gegen die metallene Stoßleiste an der gegenüberliegenden Wand prallte. Nicht gerade ein rühmlicher Moment seines Chirurgenalltags.
Er verabscheute Kollegen, die sich wie Primadonnen aufführten, und er konnte sich denken, welchen Eindruck er beim Team hinterlassen hatte. Ein Grund mehr, die pflichtschuldige Einladung abzulehnen.
Außerdem trank er lieber allein.
„Nein danke, Jock, ich muss zurück in die Klinik.“
Was auch stimmte. Auf Leos Schreibtisch lag eine Akte zu einem wichtigen Fall, in den Ethan sich einarbeiten musste. Und in der schweren Kristallkaraffe auf dem Walnussholztischchen wartete ein vorzüglicher alter Whisky auf ihn.
Er blickte in die Runde. „Danke an alle, das war gute Arbeit.“
Allgemeines Gemurmel, man wünschte ihm Gute Nacht, und dann war Ethan allein. Erleichtert sank er auf die Bank, streckte die Beine aus, versuchte, die verkrampften Muskeln zu lockern. Er schloss die Augen und saß einfach nur da.
Aber er konnte hier nicht ewig bleiben. Die Arbeit rief. Widerstrebend öffnete er die Augen und griff nach seiner Kleidung.
Das schwarze Taxi hielt vor dem beeindruckenden Gebäude aus viktorianischer Zeit. Wie so viele andere Privatkliniken und Arztpraxen in der berühmten Harley Street wirkte die Hunter Clinic so exklusiv und elegant, wie man es bei dieser Adresse erwartete.
Ethans Vater, der bekannte plastische Chirurg James Hunter, hatte sie vor über drei Jahrzehnten gegründet. Heute war sie in der ganzen Welt nicht nur für ihre karitative Arbeit an zivilen und militärischen Opfern aus Krisengebieten bekannt, sondern auch für ihre schillernden prominenten Klienten.
Was sie im Wesentlichen Ethans Bruder Leo verdankte.
Vor allem nach dem Skandal, den ihr Vater vor zehn Jahren losgetreten hatte. Als der dann plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte Leo die Hunter Clinic vor dem Ruin gerettet.
Ethan verdrängte die Gedanken. Er konnte kaum noch aufrecht stehen, da waren die Erinnerungen an seinen Vater und an die schwierige Beziehung zu seinem Bruder unwillkommen wie nur etwas.
Er bezahlte den Taxifahrer, stieg aus, was ihm nur mit äußerster Willenskraft gelang, und humpelte in die Klinik. Mit schmerzverzerrter Miene suchte er Halt an den Handläufen aus poliertem Edelholz, die an den Wänden der Flure montiert waren. Seine lädierten Oberschenkel schienen ihm jeden Moment den Dienst zu versagen. Seine Muskeln waren gefordert, und unter der Anstrengung brach ihm der Schweiß aus.