: Ella Cornelsen
: Was uns bleibt, ist jetzt Roman
: Limes
: 9783641278670
: 1
: CHF 8.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 432
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Selbst wenn wir alles vergessen, bleibt uns noch die Liebe
Vier ungleiche Geschwister finden nach langer Zeit wieder in ihrem Elternhaus zusammen: Sie müssen sich um ihre demente Mutter kümmern, während der Vater nach einem Sturz im Krankenhaus liegt. Fünf Tage nähern sie sich einander an und graben in Erinnerungen, wobei Familiengeheimnisse ans Licht kommen, die jahrzehntelang verschwiegen wurden. Was zum Beispiel hat es auf sich, mit dem Satz 'man muss vergessen können', den das Geschwisterquartett schon während der Kindheit ständig von der Mutter hörte? Und was ist damals, 1976, als das Familienleben aus den Fugen geriet, wirklich passiert?

Inspiriert von ihrer eigenen Geschichte erzählt Ella Cornelsen davon, wie eine Familie auch in schwierigen Zeiten zusammenhalten kann.

Ella Cornelsen, geboren 1958, ist mit mehreren Geschwistern aufgewachsen und hat in Tübingen studiert. Sie hat einen erwachsenen Sohn und lebt heute mit ihrer Familie in Stuttgart, wo sie auch in Sachen Kultur als Botschafterin unterwegs ist. Sie schreibt von Kind auf aus Leidenschaft, malt, singt und macht Musik. Ella Cornelsen ist gern in der Natur unterwegs, liebt alte Bäume, weite Landschaften, tropische Regenwälder und bunte Vögel.

5


Ich hatte den Peugeot am Straßenrand vor der Villa abgestellt und mein Gepäck ausgeladen. Jetzt stand ich vor der Haustür. Zu faul, den Hausschlüssel an meinem Schlüsselbund zu suchen, drückte ich auf die Klingel. Vinzenz öffnete mir. Vinzenz, der größte von uns Geschwistern, der große Junge mit dunklem Lockenschopf und Augen wie Kohlenstückchen. Schon in der Schule und später an der Uni liefen ihm die Frauen in Scharen hinterher, aber Vinz schien es nicht zu merken. Alle wundern sich, dass er mit seinen sechsundvierzig Jahren immer noch nicht in festen Händen ist. Erschien Ate, wenn sie bei Familienfesten auftauchte, jedes Mal mit einem anderen Mann, so brachte Vinz selten jemanden mit, nur ein paarmal war er mit Diana gekommen, einer jungen Frau von zerbrechlicher Schönheit, ebenso dunkelhaarig wie er, mit einer Tätowierung im Ausschnitt und unendlich langen Gliedern, langen Fingern und langen Zehen. Ein Model, in deren Gegenwart ich schüchtern wurde, obwohl ich nie schüchtern war. Sie wirkte wie ein Stern, der neben Vinz aufgegangen war, und Vinz hatte nur Augen für diesen Stern. Diana hatte Vinz nur zwei, drei Mal begleitet, danach kam er wieder allein, und dabei war es geblieben. Er hatte nie ein Wort über den augenscheinlich wieder erloschenen Stern an seiner Seite verloren und auch sonst über keine andere Frau.

Vinz beugte sich zu mir herunter und küsste mich auf die Wange. »Willkommen, große Ida«, sagte er.

»Hallo, kleiner Vinz.« Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und streichelte seinen Lockenschopf. Die Mähne unter meiner Hand fühlte sich weich und seidig an, wie früher, als Vinzenz kleiner als ich und sein Haar Kinderhaar gewesen war. Heute ist er so groß, dass er nicht in Konfektionskleidung passt, sondern Übergrößen trägt.

»Zimmerbelegungsplan wie früher«, meldete Vinz, nachdem ich meine Lederjacke auf einen Bügel an der Garderobe gehängt hatte.

Mein Koffer polterte auf der Treppe hinter mir her ins Untergeschoss, wo unsere ehemaligen Kinderzimmer liegen, alle in einer Reihe Richtung Süden, alle gleich groß. Wenigstens was die Kinderzimmergröße anging, ließen unsere Eltern Gerechtigkeit unter uns Geschwistern walten, wenn sie schon ihre Vorlieben so unterschiedlich an uns verteilten. Ich warf einen Blick in die beiden mittleren Zimmer. Im einen stand der blaue Schalenkoffer von Vinzenz, im anderen hatte Severin seine Sachen ausgebreitet. Ich nahm das Linke, mein früheres Mädchenzimmer. Ich würde hier übernachten, nicht nur eine oder eine halbe Nacht wie sonst, wenn es bei Familienfesten manchmal spät wurde, sondern mehrere Nächte am Stück, vielleicht eine ganze Woche lang.

Ich ließ den Blick im Zimmer schweifen. Der Raum wirkte unpersönlich, entkernt. In der Regalwand, in der früher meine Mädchenbücher dicht an dicht gesteckt hatten, standen Blumenvasen und ein bunt bemaltes Holzpferd. Nur zwei verblichene Elvis-Plakate über dem Bett erinnerten noch daran, dass dies einmalmein Zimmer gewesen war. An den unteren Rand des größeren Posters stand mit schwarzem Filzstift gekritzelt:Für Ida, die Fröhliche, von Harry. Als Mädchen war ich Elvis-Fan, Harry war mein Fan, später mein Freund. Darüber hinaus, dass ich Elvis-Ver