1. Advent
A
Sacharja 9,9-10:
Zeichen für das, was nicht da ist
Doris Gräb
IEröffnung: Ein neuer Ton ist in der Welt
Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem! – Inzwischen gehört es zu den beliebtesten Adventsliedern und zu den wenigen Chorälen in unserem Gesangbuch, die fast Volkslied-Charakter haben. Jerusalem, die Heilige Stadt, Symbol für Frieden und Heil und Glück, soll jauchzen und sich freuen. Und wir wollen es auch!
Das war nicht immer so. Im vorigen Gesangbuch, also bis zum Jahr 1994, war das Lied gar nicht abgedruckt. Mir war es bis dahin nur bekannt als vierstimmiger Satz aus Händels Oratorium »Judas Maccabäus« und vor allem bei den Posaunenchören beliebt. Und nun, unterlegt mit dem Text von Friedrich Heinrich Ranke, ist es der »Adventsschlager« schlechthin geworden. Ein jubelnder Klang im schneidigen Alla-Breve-Takt, inmitten der vielen Lichter und mit vertrauten Gerüchen umweht: So wird es Advent. Jetzt ist ein neuer Ton in der Welt.
Freut euch! Jauchzt! Es gibt genug Gründe zum Freuen! – Viele lassen sich anstecken. Ob sie am 1. Advent zum Gottesdienst und zum anschließenden Weihnachtsbazar auf den Kirchplatz kommen oder nicht: Da sind ja noch so viele andere Orte der Freude in dieser Zeit. Die Weihnachtsmärkte allüberall, zu denen man sich verabredet, um nett beieinander zu stehen und einen Glühwein zu schlürfen. Die Weihnachtsfeiern in den Schulen, in den Kindergärten, in den Betrieben. Die vielfältigen musikalischen Highlights in den Kirchen und in den Konzertsälen.
Freut euch! Es wird anders werden in den kommenden Tagen und Wochen: Freundlicher, geselliger, friedvoller. Das ist zumindest die große Hoffnung, und manchmal geht sie ja auch ein wenig in Erfüllung.
IIErschließung des Textes: Ein Friedensbringer mitten im Krieg
Das Buch Sacharja (»Jahwe möge sich erinnern«) gliedert sich in zwei Teile, die unterschiedlich zu datieren sind: Die Kapitel 1–8 werden Protosacharja zugeschrieben, die Kapitel 9–14 Deuterosacharja. Protosacharja tritt in einer Zeit auf, in der nach der Rückkehr der Exilierten der Grundstein für den neuen Tempel zwar gelegt, der Bau aber noch längst nicht abgeschlossen ist und sich die Hoffnungen auf ein neues, großartiges Israel und Jerusalem mitnichten erfüllt haben.
Dennoch: Die großen Hoffnungen kleidet er in sieben Visionen, die einen besonderen Spannungsbogen bilden und von dem Gott handeln, der seine Verheißungen für Jerusalem, für Israel, ja für die ganze Welt wahrmachen wird.
Anders als Protosacharja ist Deuterosacharja wesentlich später zu datieren. Die Hoffnung auf das große Heilsgeschehen findet sich in seinen Texten noch einmal gesteigert. Vermutlich hat Deuterosacharja beide Teile redigiert und zu einem Ganzen zusammengefügt.
Der Auftakt in Kapitel 9 (V. 1–8) spricht von der Erwartung, dass Gott als »oberster Kriegsherr« die heidnischen Nachbarn bezwingen und den großen Frieden herstellen wird. Beachtenswert ist der Wechsel von der 3. zur 1. Person. In V. 9 f. ist dann von einem ganz anderen König die Rede. Gott wird ihn einsetzen, und er wird kein kriegerischer König sein. Ein Gerechter und ein Helfer wird er sein, ein Friedensbringer, demütig auf einem Esel reitend. Der Retter, der Erlöser, der Garant des Friedens und des Heils für Jerusalem und Juda, ja, für den ganzen Erdkreis wird er sein. Nicht ohne Grund sind diese beiden Verse nun auch die bekanntesten Worte des gesamten Sacharjabuches. Vor allem Matthäus, aber auch Johannes haben sie aufgenommen, um den in Jerusalem einziehenden Jesus von Nazareth als eben diesen Friedensbringer zu beschreiben.
Innerhalb des Sacharjabuches stellen sie eine Umkehrung aller Werte dar: Der Gott, auf den sie sich bislang in ihren Erwartungen auf eine gewaltsame Bezwingung der Nachbarvölker verlassen hatten, wird abgelöst von einem »king of peace amidst war« (Wolters, 255 ff.). Er ist »eindeutig eine zukünftige Gestalt« (Delkurt), der nicht nur Jerusalem, sondern der gesamten Welt Frieden bringen wird. Warum dieser Wechsel? Will Deuterosacharja an den kriegerischen Erfolg nicht mehr so recht glauben und setzt deswegen auf einen ganz Anderen?
Wir werden diese Frage nicht beantworten können. Doch es wundert nicht, dass insbesondere Matthäus Jesus von Nazareth, den Bergprediger, den Mann des Friedens und der Liebe, mit Sacharjas Hilfe noch einmal deutlicher zu konturieren vermag. Demütig und gerecht, auf einem Esel, dem Zeichen für seine Friedfertigkeit, reitet er in Jerusalem ein, um sein Reich des Friedens auszurufen. Von diesem Frieden auf Erden haben die himmlischen Chöre doch schon bei seiner Geburt gesungen. Hier spricht der alte Text uns bis heute an: »Amidst war« – inmitten all der großen und kleinen Kriege in unserer Welt gilt es die kleinen Hoffnungszeichen wahrzunehmen, die auf den großen Friedensbringer für Jerusalem und den Erdkreis hinweisen. Das soll das Thema unserer Predigt am 1. Advent sein.
IIIImpulse: Erfüllte Sehnsucht
Tochter Zion, freue dich! – Die fröhlichen Dur-Akkorde im flotten Alla-Breve-Takt wollen gar nicht recht passen zu dem leisen König, der auf einem Esel daherkommt – auch wenn es im 3. Vers unseres Liedes dann immerhin heißt: »Sei gegrüßet,König mild!« Auch Friedrich Heinrich Ranke, der Liederdichter, muss sich des Gegensatzes bewusst gewesen sein, zwischen Händels Musik, im Grunde eine Marschmusik, komponiert zur Huldigung des siegreichen königlichen Heeres – und der Friedensbotschaft des Textes. Hier spiegelt sich der Bruch, der auch das 9. Kapitel des Deuterosacharja durchzieht. Es gilt, diesen Bruch auszuhalten. Die jubelnde Freude auf den Advent und die reale Situation, die allenfalls zu leisen Hoffnungen auf Erfahrungen des Friedens ermutigt.
»In der Advents- und Weihnachtszeit sind die Kirchen ›am dransten‹ an den Leib& Seele-Bedürfnissen vieler (eben nicht nur Kirchen-)Menschen«. So Matthias Lemme in den Predigtstudien zum 1. Advent 2015 (Lemme, 14). Dieser Beobachtung kann ich mich nur anschließen. Denn bei diesen Leib-& Seele-Bedürfnissen geht es zwar auch um Bratwurst und Glühwein. Es geht aber noch mehr um die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Und es geht um den inneren Frieden des Mit-mir- und-meinem-Leben-Eins-Seins.
»Eine gesegnete Adventszeit« wünschen wir uns deswegen. Einen schönen 1. Advent wünschen uns sogar die Damen an der Kasse des Supermarkts. Und wir tun ja auch manches dafür, dass es gelingen mag. An jedem Morgen ein wenig Ruhe und ein paar friedliche Minuten mit dem Kalender »Der Andere Advent«. An jedem Abend eine adventliche Andacht vor den Häusern in unserer Gemeinde. Die Pfadfinder bringen das Friedenslicht von Bethlehem in viele Gegenden unseres Landes. An den unterschiedlichsten Spendenaktionen beteiligen sich jetzt mehr Menschen als sonst – denn es wollen alle, d