: Johann Hinrich Claussen, Wilfried Engemann, Wilhelm Gräb, Doris Hiller, Kathrin Oxen, Christopher Spehr, Bischof Christian Stäblein, Birgit Weyel
: Predigtstudien 2020/2021 - 1. Halbband Perikopenreihe III
: Kreuz
: 9783946905998
: 1
: CHF 16.60
:
: Praktische Theologie
: German
: 304
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Eine gute Predigt lebt davon, den vorgegebenen Bibeltext in die Sprache der Menschen heute zu übersetzen. Seit mehr als 50 Jahren sind die Predigtstudien bei dieser Herausforderung ein unverzichtbares Hilfsmittel. Jeder Predigttext wird jeweils von zwei Autoren im Dialog bearbeitet. Das Autorenteam besteht aus jüngeren und älteren Theologinnen und Theologen, die in Gemeindearbeit, Kirchenleitung und Wissenschaft tätig sind. Diese bunte Vielfalt an Erfahrungen inspiriert zu einer lebendigen Auseinandersetzung mit den manchmal allzu vertrauten Bibeltexten und der Lebenssituation der Predigthörerinnen und -hörer. Deshalb dürfen die Predigtstudien auch heute in keinem theologischen Haushalt fehlen.

Johann Hinrich Claussen, geb., 1964, Propst im Kirchenkreis Hamburg-Ost und Hauptpastor an St. Nikolai, Privatdozent für systematische Theologie an der Universität Hamburg, schreibt regelmäßig für deutsche Zeitungen und Zeitschriften, verheiratet, drei Kinder. Wilfried Engemann, geb. 1959, ist Universitätsprofessor für Praktische Theologie. Er lehrt dieses Fach seit 1986. Nach einer Assistentur am Theologischen Seminar Leipzig war er ab 1989 Privatdozent an der Uni Greifswald. 1994 wurde er als Ordinarius für Praktische Theologie an die Uni Münster berufen. Im WS 2011 wechselte er an das Institut für Praktische Theologie und Religionspsychologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien. Dem Fachpublikum ist er auch als Mitherausgeber der Zeitschrift Wege zum Menschen sowie durch das Lehrbuch Einführung in die Homiletik (2. Aufl. 2011) bekannt. Wilhelm Gräb, Dr. theol., geb. 1948, in Bad Säckingen/Rhein; 1987-1992 Pfarrer in Göttingen; 1993-1999 Professor für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum; seit 1999 Professor für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Homiletik, Seelsorge und Kybernetik an der Humboldt-Universität zu Berlin, Leiter des Instituts für Religionssoziologie; seit 2001 Berliner Universitätsprediger; seit 2011 Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Stellenbosch, RSA. Doris Hiller, geb. 1968, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen und Heidelberg. 1997 Promotion zur Dr. theol. in Jena. 1998-2000 Vikariat in der Evangelischen Landeskirche in Baden in Hemsbach mit Ordination. 2001-2007 Assistentin am Lehrstuhl Systematische Theologie/Dogmatik in Leipzig, 2011 Habilitation in Bochum. 2008-2012 Gemeindepfarrerin in Ittlingen und Richen (Kirchenbezirk Kraichgau). Seit 2013 Seminardirektorin am Predigerseminar Petersstift und Privatdozentin im Fach Systematische Theologie in Heidelberg. Pfarrerin Kathrin Oxen, geb. 1972, in Neustadt in Holstein, studierte evangelische Theologie in Wuppertal und Berlin. Nach dem kirchlichen Vorbereitungsdienst in Bremen und Lüneburg war sie von 2004 bis Anfang 2012 Pfarrerin der ev.-reformierten Kirche in Mecklenburg-Bützow. Sie absolvierte von 2008 bis 2010 die 'Meisterklasse Predigt' des Atelier Sprache e.V. in Braunschweig. Seit Februar 2012 leitet sie das Zentrum für evangelische Predigtkultur, eine Einrichtung der EKD in der Lutherstadt Wittenberg. Für ihre Predigten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u. a. 2009 mit dem Predigtpreis des Verlags für die deutsche Wirtschaft in der Kategorie 'Beste Predigt'. Sie ist als Autorin und Herausgeberin für verschiedene Predigthilfen tätig, außerdem als Verfasserin von Rundfunkandachten im MDR und auf Deutschlandradio Kultur. Kathrin Oxen ist verheiratet und Mutter von vier Kindern. Christopher Spehr, geb. 1971, in Bad Oeynhausen, studierte von 1992 bis 1999 Ev. Theologie in Bethel, Tübingen und Zürich. Anschließend promovierte er zum Dr. theol. an der Universität Münster, absolvierte 2002-2005 sein Vikariat in Herne-Holsterhausen (Westfalen) und wirkte 2005-2010 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Kirchengeschichte II der Ev.-Theol. Fakultät in Münster. Nach Habilitation im Fach Kirchengeschichte 2009 und Vertretungsprofessuren in Bochum und Jena ist er seit 2011 W-3 Professor für Kirchengeschichte an der Theol. Fakultät der Friedrich-Schiller-Universitä Jena. 2012 erfolgte die Ordination durch die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland. Er ist verheiratet und hat eine Tochter. Birgit Weyel, geb. 1964, in Siegen/Westfalen. Studium der Ev. Theologie in Bonn und Berlin.1991 und 1992 Vikariat in Berlin-Mitte und im Predigerseminar Wittenberg. Ordination 1992 in St. Marien, Berlin-Mitte. Seit 1993 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Assistentin in der Praktischen Theologie in Berlin. 1997 Promotion zum Dr. theol. 2004 Habilitation. Sommersemester 2006 und Wintersemester 2006/2007 Vertretungsprofessur in München.

1. Advent

A

Sacharja 9,9-10:

Zeichen für das, was nicht da ist

Doris Gräb

IEröffnung: Ein neuer Ton ist in der Welt

Tochter Zion, freue dich, jauchze laut, Jerusalem! – Inzwischen gehört es zu den beliebtesten Adventsliedern und zu den wenigen Chorälen in unserem Gesangbuch, die fast Volkslied-Charakter haben. Jerusalem, die Heilige Stadt, Symbol für Frieden und Heil und Glück, soll jauchzen und sich freuen. Und wir wollen es auch!

Das war nicht immer so. Im vorigen Gesangbuch, also bis zum Jahr 1994, war das Lied gar nicht abgedruckt. Mir war es bis dahin nur bekannt als vierstimmiger Satz aus Händels Oratorium »Judas Maccabäus« und vor allem bei den Posaunenchören beliebt. Und nun, unterlegt mit dem Text von Friedrich Heinrich Ranke, ist es der »Adventsschlager« schlechthin geworden. Ein jubelnder Klang im schneidigen Alla-Breve-Takt, inmitten der vielen Lichter und mit vertrauten Gerüchen umweht: So wird es Advent. Jetzt ist ein neuer Ton in der Welt.

Freut euch! Jauchzt! Es gibt genug Gründe zum Freuen! – Viele lassen sich anstecken. Ob sie am 1. Advent zum Gottesdienst und zum anschließenden Weihnachtsbazar auf den Kirchplatz kommen oder nicht: Da sind ja noch so viele andere Orte der Freude in dieser Zeit. Die Weihnachtsmärkte allüberall, zu denen man sich verabredet, um nett beieinander zu stehen und einen Glühwein zu schlürfen. Die Weihnachtsfeiern in den Schulen, in den Kindergärten, in den Betrieben. Die vielfältigen musikalischen Highlights in den Kirchen und in den Konzertsälen.

Freut euch! Es wird anders werden in den kommenden Tagen und Wochen: Freundlicher, geselliger, friedvoller. Das ist zumindest die große Hoffnung, und manchmal geht sie ja auch ein wenig in Erfüllung.

IIErschließung des Textes: Ein Friedensbringer mitten im Krieg

Das Buch Sacharja (»Jahwe möge sich erinnern«) gliedert sich in zwei Teile, die unterschiedlich zu datieren sind: Die Kapitel 1–8 werden Protosacharja zugeschrieben, die Kapitel 9–14 Deuterosacharja. Protosacharja tritt in einer Zeit auf, in der nach der Rückkehr der Exilierten der Grundstein für den neuen Tempel zwar gelegt, der Bau aber noch längst nicht abgeschlossen ist und sich die Hoffnungen auf ein neues, großartiges Israel und Jerusalem mitnichten erfüllt haben.

Dennoch: Die großen Hoffnungen kleidet er in sieben Visionen, die einen besonderen Spannungsbogen bilden und von dem Gott handeln, der seine Verheißungen für Jerusalem, für Israel, ja für die ganze Welt wahrmachen wird.

Anders als Protosacharja ist Deuterosacharja wesentlich später zu datieren. Die Hoffnung auf das große Heilsgeschehen findet sich in seinen Texten noch einmal gesteigert. Vermutlich hat Deuterosacharja beide Teile redigiert und zu einem Ganzen zusammengefügt.

Der Auftakt in Kapitel 9 (V. 1–8) spricht von der Erwartung, dass Gott als »oberster Kriegsherr« die heidnischen Nachbarn bezwingen und den großen Frieden herstellen wird. Beachtenswert ist der Wechsel von der 3. zur 1. Person. In V. 9 f. ist dann von einem ganz anderen König die Rede. Gott wird ihn einsetzen, und er wird kein kriegerischer König sein. Ein Gerechter und ein Helfer wird er sein, ein Friedensbringer, demütig auf einem Esel reitend. Der Retter, der Erlöser, der Garant des Friedens und des Heils für Jerusalem und Juda, ja, für den ganzen Erdkreis wird er sein. Nicht ohne Grund sind diese beiden Verse nun auch die bekanntesten Worte des gesamten Sacharjabuches. Vor allem Matthäus, aber auch Johannes haben sie aufgenommen, um den in Jerusalem einziehenden Jesus von Nazareth als eben diesen Friedensbringer zu beschreiben.

Innerhalb des Sacharjabuches stellen sie eine Umkehrung aller Werte dar: Der Gott, auf den sie sich bislang in ihren Erwartungen auf eine gewaltsame Bezwingung der Nachbarvölker verlassen hatten, wird abgelöst von einem »king of peace amidst war« (Wolters, 255 ff.). Er ist »eindeutig eine zukünftige Gestalt« (Delkurt), der nicht nur Jerusalem, sondern der gesamten Welt Frieden bringen wird. Warum dieser Wechsel? Will Deuterosacharja an den kriegerischen Erfolg nicht mehr so recht glauben und setzt deswegen auf einen ganz Anderen?

Wir werden diese Frage nicht beantworten können. Doch es wundert nicht, dass insbesondere Matthäus Jesus von Nazareth, den Bergprediger, den Mann des Friedens und der Liebe, mit Sacharjas Hilfe noch einmal deutlicher zu konturieren vermag. Demütig und gerecht, auf einem Esel, dem Zeichen für seine Friedfertigkeit, reitet er in Jerusalem ein, um sein Reich des Friedens auszurufen. Von diesem Frieden auf Erden haben die himmlischen Chöre doch schon bei seiner Geburt gesungen. Hier spricht der alte Text uns bis heute an: »Amidst war« – inmitten all der großen und kleinen Kriege in unserer Welt gilt es die kleinen Hoffnungszeichen wahrzunehmen, die auf den großen Friedensbringer für Jerusalem und den Erdkreis hinweisen. Das soll das Thema unserer Predigt am 1. Advent sein.

IIIImpulse: Erfüllte Sehnsucht

Tochter Zion, freue dich! – Die fröhlichen Dur-Akkorde im flotten Alla-Breve-Takt wollen gar nicht recht passen zu dem leisen König, der auf einem Esel daherkommt – auch wenn es im 3. Vers unseres Liedes dann immerhin heißt: »Sei gegrüßet,König mild!« Auch Friedrich Heinrich Ranke, der Liederdichter, muss sich des Gegensatzes bewusst gewesen sein, zwischen Händels Musik, im Grunde eine Marschmusik, komponiert zur Huldigung des siegreichen königlichen Heeres – und der Friedensbotschaft des Textes. Hier spiegelt sich der Bruch, der auch das 9. Kapitel des Deuterosacharja durchzieht. Es gilt, diesen Bruch auszuhalten. Die jubelnde Freude auf den Advent und die reale Situation, die allenfalls zu leisen Hoffnungen auf Erfahrungen des Friedens ermutigt.

»In der Advents- und Weihnachtszeit sind die Kirchen ›am dransten‹ an den Leib& Seele-Bedürfnissen vieler (eben nicht nur Kirchen-)Menschen«. So Matthias Lemme in den Predigtstudien zum 1. Advent 2015 (Lemme, 14). Dieser Beobachtung kann ich mich nur anschließen. Denn bei diesen Leib-& Seele-Bedürfnissen geht es zwar auch um Bratwurst und Glühwein. Es geht aber noch mehr um die Sehnsucht nach Frieden und Gerechtigkeit. Und es geht um den inneren Frieden des Mit-mir- und-meinem-Leben-Eins-Seins.

»Eine gesegnete Adventszeit« wünschen wir uns deswegen. Einen schönen 1. Advent wünschen uns sogar die Damen an der Kasse des Supermarkts. Und wir tun ja auch manches dafür, dass es gelingen mag. An jedem Morgen ein wenig Ruhe und ein paar friedliche Minuten mit dem Kalender »Der Andere Advent«. An jedem Abend eine adventliche Andacht vor den Häusern in unserer Gemeinde. Die Pfadfinder bringen das Friedenslicht von Bethlehem in viele Gegenden unseres Landes. An den unterschiedlichsten Spendenaktionen beteiligen sich jetzt mehr Menschen als sonst – denn es wollen alle, d