: Thomas Fuchs
: Verteidigung des Menschen Grundfragen einer verkörperten Anthropologie
: Suhrkamp
: 9783518765326
: 1
: CHF 27.00
:
: Geisteswissenschaften allgemein
: German
: 331
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Mit den Fortschritten der künstlichen Intelligenz, der Digitalisierung der Lebenswelt und der Reduzierung des Geistes auf neuronale Prozesse erscheint der Mensch immer mehr als ein Produkt aus Daten und Algorithmen. Wir begreifen uns selbst nach dem Bild unserer Maschinen, während wir umgekehrt unsere Maschinen und unsere Gehirne zu neuen Subjekten erheben. Gegen diese Selbstverdinglichung des Menschen setzt der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs einen Humanismus der Verkörperung: Unsere Leiblichkeit, Lebendigkeit und verkörperte Freiheit sind die Grundlagen einer selbstbestimmten Existenz, die die neuen Technologien nur als Mittel gebraucht, statt sich ihnen zu unterwerfen.



<p>Thomas Fuchs ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Im Suhrkamp Verlag sind von ihm zuletzt erschienen:<em>Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft</em>(hg. zus. mit Lukas Iwer und Stefano Micali, stw 2252) und<em>Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie</em> (stw 2311).</p>

7Einleitung


Denn das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Er entscheidet über die Weisen unseres Umgangs mit uns selbst und mit den Mitmenschen, über Lebensstimmung und Wahl der Aufgaben.

Karl Jaspers (1974: 50)

Verteidigung des Menschen – dieser Titel bedarf einer Erläuterung. Eine Verteidigung kann einer Kritik oder Anklage gelten, aber auch einer Infragestellung und Bedrohung. Nun gibt es eine lange Tradition, die Menschheit selbst auf die Anklagebank zu bringen, sie der Maßlosigkeit, Gier, Hybris oder Niedertracht zu bezichtigen, ihr die Schrecken des Krieges oder die Zerstörung des Planeten anzulasten. Neuerdings häufen sich sogar Äußerungen, wonach es für die Erde das Beste sei, wenn sie sich von ihrem »Schimmelüberzug« befreien könnte, wie Schopenhauer die Menschheit einmal titulierte.[1]  Homo sapiens habe seine Vormachtstellung missbraucht und es daher nur verdient, durch einen Zusammenbruch des Ökosystems oder andere Katastrophen unterzugehen – oder aber einer überlegenen künstlichen Superintelligenz Platz zu machen. In einem Moment, in dem Geologen bereits das neue Erdzeitalter desAnthropozäns ausgerufen haben, um die umfassende Veränderung der Erde durch den Menschen zu bezeichnen, plädieren manche dafür, dieses Zeitalter sollte besser das kürzeste von allen werden.[2] 

8Eine Apologie des Menschen gegen solcherart Misanthropie wäre vielleicht angebracht, doch ist sie nicht mein Thema. Es geht mir nicht um die Verteidigung des Menschen gegen eine Anklage, sondern gegen eine Infragestellung. Denn in Frage steht heute, was man – mit unvermeidlicher Unschärfe – alshumanistisches Menschenbild bezeichnen könnte. In seinem Zentrum steht die menschliche Person als leibliches oder verkörpertes, als freies, sich selbst bestimmendes und schließlich als konstitutiv soziales, mit anderen verbundenes Wesen. Personen sind nach diesem Verständnis also keine bloßen Geister oder Bewusstseinsmonaden, sondern verkörperte, lebendige Wesen. Und Personen gibt es nicht im Singular, sondern nur in einem gemeinsamen Beziehungsraum. Im Begriff der Menschenwürde, verstanden als der Anspruch auf Anerkennung, den ein menschliches Wesen durch sein leibliches Dasein und Mitsein erhebt, vereinigen sich und gipfeln die Bestimmungen, die ein humanistisches, personales Menschenbild konstituieren.[3]  Inwiefern steht dieses Selbstverständnis des Menschen gegenwärtig in Frage?

Beyond Freedom and DignityJenseits von Freiheit und Würde lautet der Titel eines 1971 veröffentlichten Buches von B.F. Skinner, einem amerikanischen Verhaltenspsychologen. Skinner war der Auffassung, der Glaube an so etwas wie freien Willen und moralische Autonomie sei das Relikt einer mythischen, vorwissenschaftlichen9Sicht auf den Menschen. Die Zuschreibung von persönlicher Verantwortung und Würde behindere den wissenschaftlichen Fortschritt auf dem Weg, durch eine geeignete Sozialtechnologie das menschliche Verhalten zu konditionieren und so eine glücklichere Gesellschaft ohne Überbevölkerung und Kriege zu schaffen. Skinners behavioristische Vision hat sich nicht durchsetzen können. Doch sein Grundgedanke, die Wissenschaft sei in der Lage, ein rationales Wissen vom Menschen und entsprechende Technologien an die Stelle unseres in Vorurteilen und Mythen befangenen Selbstverständnisses zu setzen, ist aktueller denn je.

Der Historiker Yuval Noah Harari hat in seinem BuchHomo Deus (2017) ein düsteres Zukunftsszenario entworfen, dem zufolge der wissenschaftliche und technologische Fortschritt das liberale und humanistische Menschenbild nach und nach obsolet mache. Wir werden uns, so Harari, zunehmend den Algorithmen,[4]  Datenanalysen und Prognosen der künstlichen Intelligenz überantworten, da sie schon jetzt besser über die Zukunft Auskunft geben könnten als unsere beschränkte menschliche Intelligenz:

Die Menschen werden sich nicht mehr als autonome Wesen betrachten, die ihr Leben entsprechend den eigenen Wünschen führen, sondern viel eher als eine Ansammlung biochemischer Mechanismen, die von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden. (Harari 2017: 445)

Nachdem Harari unter ständigem Verweis auf die biologischen und kybernetischen Wissenschaften die Fundamente des liberalen Menschenbildes gründlich destruiert hat,[5]  will er zwar am Schluss10die Möglichkeit offenhalten, dass die Wissenschaft sich doch irren könnte: »Gibt es vielleicht etwas im Universum, das sich nicht auf Daten reduzieren lässt?« (532) »Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung?« (536) Falls nicht, so Harari, dann könnte vielleicht doch etwas verloren gehen, wenn die Menschen sich von intelligenten Maschinen steuern und am Ende gar ersetzen lassen. Doch nach all seinen fatalistischen Ausführungen ist dies am Ende nicht mehr als einefaçon de parler. Für Harari bleibt es dabei: »Homo sapiens ist ein obsoleter Algorithmus.« (516)

Nun ist unstreitig, dass eine Sicht des Menschen, wie Harari sie nachzeichnet, sehr reale Folgen haben kann. In China ist gegenwärtig zu beobachten, wie ein autoritäres Regime mittels künstlicher Intelligenz einen digitalen Überwachungsapparat etabliert. Ein »Sozialkreditsystem« erfasst und bewertet die Konsum- und Beziehungspräferenzen der Bürger, ihr politisches und soziales Verhalten, ihre Bonität und Konformität bis hin zum Strafregister. Gesichtserkennungssoftware, die die öffentliche Videoüberwachung auswertet, lässt sich mit dem System leicht verknüpfen. Hier wird nun doch so etwas wie Skinners Sozialtechnologie realisiert, und digitale Dystopien nehmen Gestalt an.

Gleichwohl darf sich eine Verteidigung des Menschen, seiner Freiheit und Würde, nicht darauf beschränken, düstere Zukunftsvisionen auszumalen. Es muss ihr vielmehr darum gehen, die grundlegenden Voraussetzungen einesszientistischen Menschenbildes zu kritisieren, die Autoren wie Harari unkritisch übernehmen. Zu diesen Voraussetzungen gehören vor allem folgende Annahmen:

  • Naturalismus: Aus der Sicht des reduktionistischen Naturalismus gibt es keine Phänomene, die sich einer vollständigen naturwissenschaftlichen Erklärung entziehen. Insbesondere lassen sich Subjektivität, Geist und Bewusstsein auf physikalische be11ziehungsweise physiologische Vorgänge zurückführen, das heißt als Produkte determinierter neuronaler Prozesse betrachten. Ihnen kommt keine eigenständige Wirksamkeit in der Welt zu.

  • Eliminierung des Lebendigen: Die Biowissenschaften betrachten Organismen prinzipiell als biologische Maschinen, die von genetischen Programmen gesteuert werden. Selbstsein, Erleben oder Subjektivität tauchen in diesem Paradigma nicht mehr auf. Dass eine Katze eine Maus jagt, lässt sich dann als Wirkung biochemischer oder evolutionärer Mechanismen erklären – ihren Hunger oder ihren Jagdtrieb zugrunde zu legen, gilt nur noch als ein naiver Anthropomorphismus.

  • Funktionalismus: Bewusstseinsphänomene werden auf Prozesse neuronaler Informationsverarbeitung zurückgeführt, die einen Input nach algorithmischen Regeln in geeigneten Output umwandeln. Diese digitalen Prozesse können prinzipiell auf beliebigen Trägern (»Hardware«) ablaufen, ja sie lassen sich auch durch künstliche Systeme simulieren. Denn nicht das subjektive Erleben, sondern allein die Funktion, also Datenverarbeitung und entsprechender Output, machen den Geist aus.

Träfen diese miteinander verknüpften Annahmen zu, dann wäre der Mensch in Form neuronaler Prozesse, genetischer Algorithmen und digitalisierter Verhaltensmuster, kurz, alsSumme seiner Daten weit besser zu erfassen als durch hermeneutisches Verstehen, Selbstreflexion und Selbstbesinnung. Das »Erkenne dich selbst« des Orakels von Delphi wäre überholt – die...