2. KAPITEL
FÜNFZEHN MONATE ZUVOR
Die Sonne war gerade aufgegangen, doch die Docks von Liverpool lagen noch in bleiernem Nebel. Jayden ging an den Hafengebäuden aus rotem Backstein vorbei in Richtung der betonierten Molen. Dort schaukelten die ausrangierten Fischkutter im Wasser auf und ab. Über der grauen Wasseroberfläche waberte der Nebel und irgendwo tutete ein Schiff, das vermutlich gerade in den Hafen einfuhr.
Jayden erreichte den Pier Nr. 7, eine abgelegene Anlegestelle, an der es früher jeden Samstag einen Fischmarkt gegeben hatte. Jetzt war mit roten Straßenkegeln und einem gelben Absperrband eine kleine quadratische Fläche abgesteckt worden, um die sich eine aufgebrachte Menschenmenge versammelt hatte.
Hier würde gleich ein illegaler Bare Knuckle Fight stattfinden – ein Faustkampf ohne Boxhandschuhe und ohne Regeln. Fast alle Zuschauer waren hergekommen, um Geld auf diesen Kampf zu setzen. Man konnte viel Geld gewinnen, aber auch viel Geld verlieren. Jayden hatte vor, viel Geld zu gewinnen.
In einer Ecke des Rings stand der alte Ilja, ein vor vielen Jahren eingewanderter Russe mit grüner Militärhose, Schnürstiefeln und einem grauen Rollkragenpullover, unter dem sich seine dicken Muskeln abzeichneten. An seinem roten Gesicht und der faltigen Stirn konnte Jayden erkennen, dass er zornig war.
»Mein Mann ist jeden Moment da!«, brüllte Ilja der Menge zu. Er reckte den Hals, sah sich um und entdeckte Jayden. »Da bist du ja endlich!«, rief er und winkte den Jungen herbei.
»Ich wurde aufgehalten.« Jayden schlüpfte aus seiner Jacke.
»Und ich dachte, du kneifst.« Ilja nahm ihm das Kleidungsstück ab. »Bist du aufgewärmt?«
»Einigermaßen – bin zu Fuß hergelaufen.« Jayden zog sein graues T-Shirt aus. Es war sein Lieblingsshirt, schon ziemlich ausgewaschen, aber das Emblem desFC Liverpool konnte man noch gut erkennen.You’ll never walk alone hieß der Schlachtruf, der darunter stand. »Pass gut drauf auf – ist mein Glücksbringer.« Er drückte Ilja das Shirt in die Hand.
»Sicher.« Ilja legte es auf Jaydens Jacke.
Hinter ihnen johlte die Menge. »Jetzt wirst du plattgemachen!« Andere riefen: »Das wird dein letzter Kampf, Jayden!«
Der Wind ließ Jayden frösteln und die Haare auf seiner hellbraunen Haut richteten sich auf. Ilja stellte sich hinter ihn und massierte seinen Nacken. »Hör nicht auf diese Idioten. Mann, sind deine Schultern verspannt.«
Jayden ließ den Kopf kreisen und versuchte, das Gebrüll der Zuschauer zu ignorieren. Dann schielte er zu seinem Gegner in der anderen Ecke: ein rothaariger Hüne mit Sommersprossen, der vermutlich schon achtzehn war und – wie man an den sich wölbenden Muskeln sah – viel Zeit mit Gewichtdrücken verbrachte. Außerdem sah seine Nase ziemlich verknorpelt aus und war schon mehrmals gebrochen.
Ilja deutete zu dem Kerl. »Der Typ kommt aus Dublin. Ist ziemlich groß.«
»Was?«, fragte Jayden. »Dublin?«
»Mann, das ist nicht witzig! Der Kerl ist riesig.«
»Hab ich gesehen.«
»Und stark.«
»Hab ich mir gedacht.«
»Und ein fieser Kotzbrocken. Ich habe ihn gestern kämpfen gesehen. Nimm dich vor seinem rechten Haken in Acht. Und seinen Kicks!«, warnte Ilja ihn.
»Tu ich doch immer.«
»Er kommt mit dem rechten Knie ziemlich hoch rauf. Die Quoten stehen fünf zu eins.«
»Ich weiß.« Jayden dachte kurz nach. »Für mich?«
»Witzbold!« Ilja seufzte. »Denk dran, was wir besprochen haben! Welche Runde?«, flüsterte er.
»Die fünfte.« Jayden zog den Gürtel seiner Hose enger und stieg in den Ring.
Nun erhob sich auch sein Gegner vom Hocker.O Mann! Der Kerl war wirklich riesig. Jayden war auch nicht gerade klein, aber der Typ überragte ihn um mindestens einen Kopf und er hatte Fäuste wie Vorschlaghämmer. Jayden wollte gar nicht wissen, wie der Typ hieß, und nannte ihn deshalb im Geiste nur den Iren. So konnte er besser Distanz zum Gegne