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Sie beantwortete noch einige E-Mails und kommentierte einen Bericht, den sie von der Zentrale in Paris mit der Bitte um Stellungnahme bekommen hatte. Ihre private Post, die der Briefträger der Einfachheit halber im Kommissariat abgab, hatte sie schnell durchgesehen. Wieder einmal ging es um das Erbe, das ihr Thierry hinterlassen hatte. Doch damit wollte sie sich heute nicht beschäftigen. Das Thema belastete sie. Auf ihrem Schreibtisch gab es einen Korb, in dem sie unerledigte Post ablegte.
Zum Mittagessen traf sie sich in Jacques’ Bistro mit Nicolas, der mit vollem Namen Nicolas de Sausquebord hieß und unter dem PseudonymCLAC ein in Kunstkreisen weltberühmter Maler war – nur wusste das in Fragolin niemand. Hier hielt man ihn für einen verkrachten Künstler, der es gerade mal so schaffte, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Weil er immer freundlich war, brachte man ihm viel Sympathie entgegen. Den mit Abstand größten Zuspruch erfuhr er von Isabelle. Sie war häufig in seiner alten Bastide zu Gast – auch über Nacht.
Isabelle ging davon aus, dass sich ihre Liebschaft in Fragolin rumgesprochen hatte. Es machte ihr nichts aus. Und Nicolas war es sowieso egal.
Die Tagesempfehlung auf der Schiefertafel warFilet de rascasse à la provençale. Isabelle kannte Jacques’ Zubereitung: mit Auberginen, Zucchini und Tomaten. Sie entschieden sich beide für den Drachenkopffisch. Vorab bekamen sie unaufgefordert geröstete Brotscheiben mit der typischen Tapenade aus Oliven, Anchovis und Kapern serviert. Auch eine Flasche stilles Wasser wurde ihnen hingestellt und wie selbstverständlich eine Karaffe vom Hauswein. Jacques wusste, was seine Stammgäste erwarteten.
Isabelle und Nicolas plauderten entspannt über das Leben. Aber nur über die schönen Seiten. Dazu zählte, dass sie einen gemeinsamen Ausflug nach Saint-Paul zurFondation Maeght planten. Natürlich kannten beide das Kunstmuseum. Aber Braque, Chagall, Miró und Giacometti waren es wert, ihren Werken immer wieder mal einen Besuch abzustatten. Auch Kandinsky, Matisse und Léger. Außerdem gab es eine aktuelle Sonderausstellung, die Nicolas interessierte.
Isabelle erinnerte sich an ihren ersten Besuch des privaten Museums, das in den Sechzigerjahren vom Sammlerehepaar Marguerite und Aimé Maeght gegründet wurde. Mit Rouven Mardrinac war sie dort gewesen. Damals waren sie noch kein Paar gewesen. Wie auch? Sie war eine kleine Kommissarin und er ein milliardenschwerer Kunstmäzen und Bonvivant, auf den sie im Rahmen eines Zeugenschutzprogramms derPolice nationale aufpassen musste. Weiter konnten ihre Welten nicht auseinanderliegen. Dennoch hatten sie später zusammengefunden. Bis heute hatten sie eineaffaire amoureuse. Nicolas wusste davon. Umgekehrt wusste auch Rouven von Nicolas. Und doch fand sie es keine gute Idee, gerade jetzt von Rouven zu sprechen. Man musste nicht alles kundtun, was einem gerade durch den Kopf ging.
Der Rascasse war köstlich. Auf dieCrème brûlée à la lavande zum Dessert wollten sie eigentlich verzichten, doch da sie zum Mittagsmenü gehörte, wurde sie ihnen einfach hingestellt. Es konnte einem Schlimmeres passieren.
Sie waren mit dem Essen schon fertig und überlegten, ob sie sich am Abend erneut treffen wollten, da trat eine Frau an ihren Tisch und fragte schüchtern, ob sie stören dürfe. Isabelle kannte sie flüchtig. Juliette lebte allein und arbeitete als Klavierlehrerin. Auf den ersten Blick war sie unscheinbar. Wer genauer hinschaute, konnte jedoch erkennen, dass sie eigentlich eine Schönheit war. Aber ihr Äußeres war ihr egal. Sie war ungeschminkt, hatte die Haare hochgesteckt und trug ein verwaschenes Kleid. An den Füßen ausgetretene Espadrilles.
Isabelle schlug Juliette vor, sich zu ihnen an den Tisch zu setzen.
Juliette winkte ab. Nein, vielen Dank, sie wolle nur fragen, ob sie sich mal unter vier Augen treffen könnten. Sie habe ein Problem.
Nicolas lächelte und stand auf. Er habe sowieso gerade gehen wollen, erklärte er.
Aber nicht doch, protestierte Juliette, das sei ihr jetzt aber unangenehm …
Das müsse es nicht, erwiderte Nicolas und bot ihr seinen Stuhl an. Von Isabelle verabschiedete er sich mit unverfänglichen Wangenküsschen. Sie sah ihm hinterher, wie er davonschlenderte. Wie fast immer hatte er verknitterte weiße Leinenklamotten an. Die langen Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Breite Schultern, lässiger Gang. Er gefiel ihr, sogar von hinten.
»Juliette, wollen Sie was trinken?«, fragte Isabelle. »Ein Glas Wein? Oder lieber einenthé à la menthe?«
»Einen Minztee? Ja, das ist eine gute Idee.«
Juliette sah sich einige Male um und überzeugte sich, dass niemand mithören konnte.
»Isab