Oktober 1918
Niemand hatte es ihr zugetraut, nicht einmal sie selbst. Und schon gar nicht, dass sie eines Tages allein mit ihrer Tochter mitten in der Natur leben und das Wetter zu lesen verstehen würde wie die Geschichte in einem Buch. Anna von Quast lehnte in der Tür ihres Hauses, das in eintausenddreihundertzwanzig Metern Höhe thronte, und schnupperte in die Luft. Wo gestern noch ein Hauch von Wärme gehangen hatte, roch es heute nach Schnee. Ihr Blick schweifte über die Bäume, die die Kuhweide nach Süden hin begrenzten, hinauf ins lichter werdende Blau der Alpenkette. Der Jochberg verschwand bereits im Dunst, und auch über dem felsigen Gipfel des Rabenkopfs, der sich majestätisch wie die Rückenlehne eines Throns hinter ihr erhob, schwebten Wolken. Zeit, den Rosenkohl zu ernten, dachte sie, bevor er unter dem Weiß unauffindbar sein würde. Anna betrachtete ihren Garten, der ihr ganzer Stolz war. Unmöglich, dass hier oben überhaupt etwas außer Gras wuchs, hatte es von allen Seiten geheißen, und erst recht kein Rosenkohl. Aber der war nicht ihr einziger Erfolg in diesem Jahr gewesen. Feldsalat, Karotten, Kartoffeln, sogar Ackerbohnen und Spinat hatte sie geerntet. Auf dem Hang, wo vorher Büsche, Gestrüpp und Gras wild gewachsen waren und auf dem man sich nur mit Steigeisen hatte halten können, hatte sie Terrassen für Kräuter, Obst und Gemüse angelegt und ein kleines Paradies erschaffen. Ihren Garten Eden. Sie betrachtete ihre stark gebräunten Hände voller Schwielen. Kaum vorstellbar, dass das dieselben Hände waren, mit denen sie noch vor wenigen Jahren Klavier gespielt hatte. Abwegig, ein völlig aberwitziges Unterfangen wäre das, hatte jeder gesagt, dem sie von der Tonkaalm erzählte. Hier oben, wo der Winter manchmal schon im Sommer anfing und bis in den nächsten Mai dauerte, könnte man sich bloß bis zum Ende der Weidezeit aufhalten, geschweige denn überleben. Und genau das hatte Anna herausgefordert, denn schließlich wusste sie viel über Pflanzen und Tiere, hatte durch ihren Vater, der ein bekannter Pflanzenjäger war, sozusagen das Wissen in die Wiege gelegt bekommen. Aber Wissen und Können waren zweierlei. Das hatte sie gleich nach dem ersten Unwetter gespürt, das ihr die kostbare Saat samt der Erde weggespült hatte. Im Tal, erst recht in den Gewächshäusern, war der Mensch der Bestimmer, hier oben war man den Widrigkeiten der Natur ausgesetzt. Daran war Anna beinahe zerbrochen, als sie vor sieben Jahren herzog und völlig allein auf sich gestellt angefangen hatte. Sie ging nach draußen und strich über den Stamm des Tonkabaums, der entlang der Hauswand wuchs und nun das Dach überragte. Wenn sie am Verzweifeln gewesen war, hatte er ihr stets Trost gespendet. Als kleines Pflänzchen hatte ihr Vater ihn von einer seiner Reisen mitgebracht und ihrer Mutter zu Annas Geburt geschenkt. Das war vor achtundzwanzig Jahren gewesen. Seiner südamerikanischen Heimat entrissen, trotzte der Schmetterlingsblütler der rauen Witterung der bayerischen Voralpen, genau wie sie. Tossa muhte hinter dem hölzernen Weidezaun. Wahrscheinlich suchte sie wieder ihr Kalb, obwohl es vermutlich dicht hinter ihr stand. Auch Helene quäkte. Zurück in der Stube, hob Anna ihre Tochter aus dem Wäschekorb, der ihr als Bett und Laufstall diente, zog ihr das Strickjäckchen an, setzte ihr die Haube auf und band sie sich nach Art der afrikanischen Bäuerinnen auf den Rücken. Helene strampelte und stemmte sich dagegen. Seit sie sich selbst bewegen konnte, verlangte sie Freiheit und mochte es nicht mehr, stundenlang eng am Körper getragen zu werden. Doch außerhalb des Hauses war es für die Kleine noch zu gefährlich, jedenfalls, solange sie nicht trittsicher war und wie ein Geißlein das Gleichgewicht halten konnte. Über das Gezeter hinweg schlüpfte Anna aus den Holzpantinen, schnürte sich die Bergstiefel und stimmte eine Melodie an, ein Lied ihres Liebsten, der im Gegensatz zu ihr wirklich singen konnte.