: Tina Schmid
: Val Calanca Kriminalroman
: Emons Verlag
: 9783960418092
: 1
: CHF 7.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 208
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Tragöd e in Graubünden Der Fund eines toten Neugeborenen erschüttert die Bewohner des Val Calanca - und in dem abgelegenen, wild-ursprünglichen Bündner Tal ist von einem auf den anderen Tag nichts mehr, wie es war. Der junge Ermittler Flurin Albertini und sein Team von der Kantonspolizei Graubünden nehmen Feriengäste, Zugezogene und Alteingesessene ins Visier. Nach und nach tun sich immer tiefere menschliche Abgründe vor ihnen auf. Doch als immer mehr Details ans Licht kommen, erscheint die Unglücksnacht plötzlich in einem ganz neuen Licht.

Tina Schmid, geboren 1984, schrieb ihre ersten Geschichten als Kind. Das Schreiben begleitet sie auch in ihrer Tätigkeit als Primarlehrerin und im Unterrichten von Deutsch als Zweitsprache. Sie lebt seit über zehn Jahren im Herzen Zürichs. Immer wieder aber entflieht sie dem Stadtleben und fährt ins Val Calanca im Kanton Graubünden.

EINS


Rasch zogen sie am Himmel vorbei, die Wolken, deren Formen sich von einem Augenblick zum nächsten komplett wandeln konnten. Es musste am starken Talwind liegen, der hier jeden Tag ab der Mittagszeit von Süden nach Norden durch das enge Val Calanca blies. Sie lag auf einem grossen, flachen Stein unten an der Calancasca und genoss eine wohlverdiente Pause. Die tiefen, ausgeschliffenen Becken luden trotz des eiskalten Wassers zum Baden ein, und sie bereute es, ihr Badekleid nicht eingepackt zu haben. In der letzten halben Stunde hatte sie den Wildwasserfluss in all seinen Facetten kennengelernt. Tiefe Schluchten mit tosenden Wasserfällen hatten sich mit gut zugänglichen Uferpassagen mit niedrigem Wasserstand abgewechselt. Sie war begeistert. Den Talboden von unten nach oben zu durchqueren, war das Ziel ihrer heutigen Wanderung.

Sie war allein unterwegs, Daniel mochte sie nicht begleiten. Er fühle sich nicht wohl, hatte er gemeint, vielleicht der Magen, etwas Falsches gegessen. Sie hatte genickt, obwohl sie wusste, dass die Gründe anderswo lagen. Das taten sie meistens. Eine seltsame Stimmung lag zwischen ihnen, seit sie vor zwei Tagen angekommen und in das Häuschen eingezogen waren. Sie fragte, er schwieg. Es war ihr daher ganz recht, dass sie das Tal heute ohne ihn erkunden konnte. Es war bereits Nachmittag, ihr Tempo war zügig gewesen, und sie hatte sich fast dazu zwingen müssen, eine kurze Pause einzulegen und einen Moment durchzuatmen.

Sie setzte sich auf und suchte in ihrem Rucksack nach der Karte. Sie befand sich zwischen den Dörfern Arvigo und Selma. Mit dem Finger fuhr sie den Weg nach. Er würde sie weiter dem Fluss entlang und nach einem Zwischenstück auf der Landstrasse bis nach Rossa bringen, dem hintersten Dorf im Tal. Sie sah auf die Uhr. Das letzte Postauto, das sie wieder zurückbringen würde nach Buseno, fuhr in zwei Stunden. Sie sollte aufbrechen.

Obwohl sie in Winterthur, im Flachland, aufgewachsen war, war ihr das Bergwandern in die Wiege gelegt worden. Ihr Vater war Bergführer, und während ihre Schulfreundinnen ans Meer gefahren waren, war sie mit ihrer Familie von Hütte zu Hütte gewandert: im Alpstein, im Engadin oder auch mal im Berner Oberland. Manchmal hatte sie diese endlosen Wanderungen langweilig gefunden. Gleichzeitig war sie fasziniert gewesen von steilen Felswänden und tiefen Abgründen und hatte sich gefreut, sobald der Weg schmaler und steiniger und die Abgründe sichtbarer geworden waren. Sie hatte das freudige Kribbeln gemocht, das sich dann in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Ihr Vater hatte bewusst versucht, diese Nervenkitzel in die Touren einzubauen, um sie und ihren Bruder bei Laune zu halten.

Schon als Kind war sie schnell unterwegs gewesen, um als Erste die spektakuläre Aussicht zu geniessen oder um die Anstrengung rasch hinter sich zu bringen. Diese Angewohnheit hatte sie bis heute beibehalten. Langsames Wandern machte sie unruhig, und es fiel ihr schwer, auch wenn sie es immer wieder versuchte, um ihre Begleiter nicht zu sehr zu verärgern. Heute spielte dies keine Rolle. Sie stand auf, warf sich den Rucksack über die Schultern und fand schnell in ihren Rhythmus zurück.

Den Blick auf den Waldboden gerichtet, marschierte sie vorwärts. Keine