: Helga Schütz
: Heimliche Reisen
: Aufbau Verlag
: 9783841228291
: 1
: CHF 17.20
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 384
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

'Diese magische Erinnerin erzählt Weltgeschichte, wie sie der Einzelne erfährt.' Christoph Dieckmann, Die Zeit. 'Die Erde schwankte sanft wie eine Wiege, wie im Traum summten die alten Geschichten. Wie mein Leben, wie die Nachrichten über mein Leben.' Die verwunschenen Wege der Erinnerung führen zur schlesischen Kindheitslandschaft, in ein marodes Grenzgebietshaus, an Schneidetische und in Limonenhaine: Orte für gefühlte Beben, Fluchten, heimliche Reisen und Stationen einer bestrickenden, weisen, gewitzten Lebenserzählung, die Jahrzehnte deutscher Geschichte einschließt. 'Manche Geschichten sind zum Wachbleiben und manche zum Einschlafen, es gibt sie, damit die Nacht vergeht oder die Kälte. Es gibt auch noch die Geschichten, die sich Leute in der Wüste erzählen, wenn sich die Karawane ausruht.' 'Es ist die große Kunst von Helga Schütz, das Politische beiläufig und nebenbei mitzuerzählen.' Jörg Magenau, SZ. 'Ihre schwebende Prosa trifft ins Herz.' Freie Presse.



Helga Schütz wurde 1937 in Falkenhain/Schlesien geboren. 1944 Umsiedlung nach Dresden. Nach einer Gärtnerlehre Arbeit als Landschaftsgärtnerin. ABF. Nach dem Studium an der Hochschule für Filmkunst in Potsdam-Babelsberg wurde sie freie Autorin und schrieb Drehbücher und Szenarien zu Spiel- und Dokumentarfilmen, später auch Romane und Erzählungen. Em. Professorin an der Hochschule für Film und Fernsehen. Sie lebt in Potsdam. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen.

Zuletzt erschienen: Grenze zum gestrigen Tag (Roman, 2000); Dahlien im Sand. Mein märkischer Garten (2002); Knietief im Paradies (Roman, 2005); Sepia (Roman, 2012); Die Kirschendiebin (Erzählung, 2017);  Von Gartenzimmern und Zaubergärten (2020).

Heimkind


In diesen Tagen lebten wir immer noch hochgestimmt in einer Art Gewinnerlaune.

Zum rauschhaften Mauerfall war nun auch noch das Frühjahr gekommen, der liebliche Mai, begleitet von lauthals jubelnden Nachtigallen. Der Flieder blühte. Die S-Bahnen ratterten wieder kreuz und quer durch Berlin.

Der gründlich zugemauerte Grenzhaltepunkt Griebnitzsee hatte bereits die Haupttore offen. Jeder Tag ein Feiertag. Es hieß, das sei nun das Ende des Krieges. Wir, die Verlierer, seien das glücklichste Volk auf der Welt.

Um sich das Leben noch schöner zu gestalten, ging man nicht durch den Haupteingang in den Bahnhof, man lief am liebsten quer über das ehemalige Akademiegelände, kletterte durch selbstgemachte Mauerlöcher, stieg über Gleise, kroch durch Gestrüpp über einen zugeschütteten Tunnel. Immer geradeaus zum provisorischen Bahnsteig, wo auf einer schwarzen Tafel Abfahrtszeiten angezeigt wurden. Mit Kreide die nächste. Man konnte sich darauf verlassen.

Einmal hatte sich mir auf diesem Schleichweg ein Student angeschlossen, ich kannte ihn vom Sehen, er galt in der Seminargruppe meines Kollegen als eigenbrötlerischer Typ, jetzt aber hielt er sich gesellig an meiner Seite. Er reichte mir die Hand, so kletterten wir über die Böschung, er plaudernd, ich etwas atemlos hinter ihm her. Ich erfuhr brühwarm, wie sein grade fertiggestelltes Romanmanuskript, sein zweiter Versuch, von den Verlagsleuten in Berlin begrüßt worden war. Man habe sich die Kapitel aus den Händen gerissen, aus jeder Bürotür habe man begeistertes Lachen gehört. Man muss sich das vorstellen. Ein Verlagskorridor einhellig heiter. Toller Roman über tolldreiste Zeiten. Ich freute mich mit ihm, so war die Stimmung, und ich konnte mir einbilden: Ich bin dabei gewesen, unter meinen Augen war ein bleicher Student zum Dichter geworden.

In dieser Laune, eigentlich aus reiner Reiselust und Neugier, bestieg ich die wunderbar durchfahrende S-Bahn Richtung Ostbahnhof, also quer durch Berlin.

Der frisch Gekürte hatte im Abteil Freunde getroffen. Ich hörte ihn erzählen. Von seinem Verlag, vom Lachen aus jeder Bürotür.

Mit mir war ein Junge zugestiegen. Etwa neun Jahre alt. Er setzte sich mir gegenüber. Er blinzelte mir zu. Am linken Unterarm bis zum Daumen hütete er stolz einen ziemlich schmutzigen Gips. Er trug saubere Jeans, einen blauen Pullover und Schuhe mit praktischem Klettverschluss, man musste keine Schleife mehr lernen. Ich roch, im übertragenen Sinne, aber auch direkt mit meiner Nase, dass er aus dem Kinderheim kam. Ein Gemeinschaftsküchengeruch, dazu Desinfektionslösung, Bohnerwachs und deutlich Fliederduft. Das Kinderheim befand sich im ehemals abgesperrten Grenzgebiet in einer Villa am Ufer des Griebnitzsees, also ganz in der Nähe des Bahnhofs. Von zwei mächtigen Büschen, die das Portal des Vorgartens überwucherten, hatte ich kürzlich ein paar schöne lila Dolden abgebrochen. Mein zusätzliches Extra- und Sondervergnügen, im Grenzgebiet Flieder klauen. Der Duft schien jetzt mit uns zu fahren. Urwüchsig, süß, grenzenlos.

Der Junge verzog das Gesicht, es sollte ein freundliches Lächeln sein, jedenfalls eine gute Miene zum Start seiner Reise. Ich grinste wie ein Komplize zurück. Das kannte er. Diese gewinnende einvernehmliche Art, damit war er vertraut und gewarnt. Er würde wachsam sein müssen.

Beherzt startete er das Gespräch.

Ich fahre jetzt zu meiner Mama.

Da freust du dich, das ist doch sehr schön.

Er nickte, er runzelte die Stirn. Ich weiß, sagte er.

Wir schwiegen.

Ich wühlte in meiner Tasche, einem Taschenrucksack, einer Rucksacktasche. Er beobachtete meine Hände. Nie fand ich, was ich suchte. Reißverschlüsse, Seitenfächer, Schirmfach, ein Schlüsselbund und ein Kamm. Ich hatte nichts bei mir, keine Bonbons, keinen Kaugummi, nichts. Ich sah seine Enttäuschung und seine Einsicht, so ist das Leben, es schenkt selten, es gibt von alleine nichts her.

Deswegen hatte er sich auf den Weg gemacht.

Er war unterwegs.

An den Fenstern zog der Westen vorbei, das bis vor Kurzem noch unzugängliche Westberlin, Grunewald, Häuser, die Avus. Autos flitzten. Der Junge kannte sich aus, Opel, Volvo Amazon, Volvo P130, Mercedes 126.

Er hatte wohl aus verschiedenen Quellen allerlei von den überraschenden Umstürzen gehört.

Das da draußen, das ist jetzt wieder eine Kugel, erklärte er mir, die ganze Erde ist eine Kugel und dazu noch ein Planet. Die Erde ist ein Planet. Er runzelte die Stirn, weil er sehr überzeugt war.

Alles sei nun ein Planet, jetzt könne man ohne Ende rundrum laufen, früher wäre das überhaupt nicht möglich gewesen, wegen der Mauer.

Nun sei die Mauer weg.

Fuck, sagte er. Wir sind wieder ein runder Planet.

Er gab mir zu verstehen, dass die Sache auch für mich ihr Gutes hätte.

Auch rückwärts, in die andere Richtung, könne ich gehen. Man brauche nicht mal einen Ausweis.

Es war nur klug, die Stunde zu nutzen.

Keinen Ausweis, und er hatte gewiss keine Fahrkarte, viele fuhren ohne Fahrkarte in diesen Zeiten. Kontrollen musste man nicht fürchten, Kontrollen jeder Art waren in diesen Zeiten verpönt.

Seine Augen hingen an einem kleinen Hund, der wie hingeworfen im Gang zu Füßen eines Mannes lag. Er musterte das T-Shirt.NEW YORKER mit Herz. Doch er durfte mich nicht aus der Obacht verlieren. Er musste mein Vertrauen hüten. Darin suchte er Schutz. Er suchte Schutz in meinem Glauben an seine Wahrheit. So schaukelten wir im Rädertakt auf der Erde, die nun wieder Planet war, sanft hin und her. Glauben und Wahrheit, Zweifel und Lüge. Ich machte mich leicht, meiner Stimme gab ich einen kumpelhaften Ton.

Wo ist denn deine Mutti?

Auf dem Alexanderplatz. Sie arbeitet jeden Tag auf dem Alexanderplatz-Bahnhof.

Was macht sie denn?

Mama bestimmt. Sie sagt: Abfahrt. Dann fährt der Zug los.

Dort triffst du dich mit ihr?

Er setzte sich gerade und nickte. Kühn und gelassen. Er spielte gut. Er saß in der S-Bahn, er fuhr von Station zu Station und hatte sogar ein Ziel. S-Bahnhof Alexanderplatz.

Alle Mitfahrenden waren damit einverstanden, keiner zweifelte, niemand schaute neugierig oder gar strafend, alle waren gut und dachten schöne Sachen von der Welt. Während einer friedlichen Revolution, wo kein Blut geflossen war, gab es weder Gewalt noch Strafen.

Ich schloss die Augen, ich musste ihn nicht ansehen.

Mir gegenüber saß ein Ausreißer. Möglicherweise ein Taschendieb oder jemand, der keine Eltern mehr hatte, vielleicht lebten die Eltern im Westen, waren ohne ihr Kind rausgekauft worden, waren nun, unter den neuen Umständen, wo so viel ungeklärt in der Luft hing, auf verzweifelter Suche nach ihm, oder der Junge war von Vater und Mutter verlassen worden, niemand scherte sich um ihn. Ein Heimkind, in dessen Kopf noch eine andere Welt geisterte, ein richtiges Leben, das wahre. Man musste nur schlau genug sein, so wie er, eigentlich musste man nur das mit Flieder überwachsene Tor aufmachen, wenigstens einen Spalt, und über die Straße rennen, den Zug besteigen, kerzengrade dasitzen und die richtigen treuen Augen machen, dann war man schon ein Stück drin in diesem richtigen und eigenen Leben.

Die S-Bahn querte den früheren Kontrollpunkt Friedrichstraße. Der Fluss mit Schiffchen drauf, das war ein Stück von der Spree, ein Flussarm. Das große mit Sprüchen besprühte Gebäude nahe am Wasser, das war der Tränenpalast. Wenn du nicht ertrinken willst, musst du wie verrückt träumen und lügen.

Wie heißt du denn?

Rainer, nein, Ringo.

Wie denn nun?

Ringo. Ich heiße Ringo.

Er sah mich giftig an. Die neugierige Alte.

Vielleicht war im Kinderheim am Griebnitzsee das Fehlen eines Kindes noch nicht aufgefallen.

Ich muss unbedingt mit ihm reden. Junge, kehr um. Komm, die nächste Bahn ist unser.

Ich würde mit ihm zurückfahren. Ich könnte ihm versprechen, dass es keinen Krach geben wird. Ich würde mit dem Leiter der Einrichtung verhandeln, damit sein Fall stillschweigend im Sande verläuft. Keine Angst, Kumpel. Ich begleite dich. Ich weiß Bescheid, ich kenne das Leben und habe Macht und Befugnisse wie einer der sechs Gnadenengel. Ich ...