Toskana, 21. Oktober 2005
1
Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Blut gesehen. Er lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete sich dabei, wie er atmete. Ein – aus – ein – aus. Bloß nicht aufhören, jetzt bloß nicht schwindlig werden. Er blinzelte, drückte die Augen ganz fest zu und machte sie dann langsam wieder auf. Sein Blick war klar, mit den Augen hatte es nichts zu tun und auch nicht mit seinem Verstand. Was er sah, war eindeutig Blut, obwohl er es nicht begreifen konnte.
Er war an diesem Morgen bereits im Dunkeln aufgebrochen, hatte seinen Wagen in Solata unter der Kastanie in der Ortsmitte stehen lassen und war dann – begleitet vom wütenden Gekläff mehrerer Hunde – losgewandert. Jetzt war es zwanzig nach sieben, und die Sonne ging auf. In einer Viertelstunde würde sie hinter Volpaio auftauchen, aber noch war es ziemlich dunkel im dichten Wald, in dem das Haus Sarah Simonettis stand. Sie hatte den Wald nie lichten lassen, obwohl die meisten Baumstämme meterhoch, aber nicht dicker waren als ein Kinderarm. Sarah liebte die Dunkelheit und die Stille, als brauche sie ein Versteck.
Marcello ging langsam. Seit seinem Herzinfarkt vor über zwei Jahren machte er regelmäßig lange ruhige Spaziergänge, die jetzt im Herbst besonders lohnend waren, da er Pilze suchen konnte. In der linken Hand trug er den Korb, den er sorgsam mit Blättern ausgelegt hatte, und in der rechten hielt er den Stock, mit dem er den Waldboden absuchte, indem er Erika, Unterholz und Gestrüpp zur Seite schob. Bisher hatte er lediglich zwei winzige Pfifferlinge und einen mittelgroßen Steinpilz gefunden, aber der Vormittag war noch lang, und er wusste, dass erst jetzt das Gebiet begann, wo die meisten Steinpilze wuchsen.
Sarah suchte nie Pilze. »Für ein Pilzgericht, das mir noch nicht einmal besonders gut schmeckt, setze ich nicht mein Leben aufs Spiel«, hatte sie häufig gesagt. Obwohl er ihr schon im vergangenen Jahr angeboten hatte, die Pilze auf ihre Genießbarkeit hin zu prüfen, hatte sie abgelehnt. »Viel Spaß beim Suchen«, sagte sie. »Und guten Appetit. Ich halte mich da raus.«
Er wusste also, dass er sie nicht störte, wenn er das terrassenförmig angelegte Gebiet ums Haus herum abging, aber er bemühte sich dennoch, so leise wie möglich zu sein, um sie nicht zu erschrecken.
An diesem Morgen war irgendetwas anders. Das spürte er, als er zwischen den Bäumen und dem meterhohen Weißdorn hinunter auf das Dach ihres Hauses sah, das sich an den Berg schmiegte, ja beinah darin verschwand.
Er blieb stehen und horchte. Es war ungewöhnlich still. Kein Windhauch rauschte in den Blättern der Eichen, er strengte sich an und konzentrierte sich, aber es war noch nicht mal der Gesang oder das Rufen eines Vogels zu hören.
Er war schon Monate nicht mehr hierher gekommen. Hatte es nicht gewagt, hatte immer noch Angst. Aber in den letzten Tagen hatte er mehrmals von Sarah geträumt, und die Sehnsucht, die er jetzt zweieinhalb Jahre erfolgreich bekämpft hatte, war wieder da. Er wollte nur einmal an ihrem Haus vorbeigehen. Mehr nicht. Immerhin hatte er durch das Pilzesammeln