8. KAPITEL
Leon Ritter, Rechtsmediziner am KrankenhausSaint-Sulpice, parkte sein Cabriolet auf seinem persönlichen Stellplatz. Die Klinik befand sich am Rand der Kleinstadt Hyères, keine zwanzig Kilometer von Le Lavandou entfernt. Hier, im Keller des neuen Anbaus, war erst kürzlich eine moderne pathologische Abteilung eingerichtet worden. Ein Prestigeprojekt von Klinikleiter Dr. Hugo Bayet, der damit seinen Ruf festigen und seine Chance auf eine Professur an der Universitätsklinik in Marseille erhöhen wollte.
Leon hatte Dr. Bayet auf einer Tagung in Toulouse kennengelernt, wo er als leitender Mitarbeiter des Rechtsmedizinischen Instituts in Frankfurt einen Gastvortrag über »Blutspurenmuster-Verteilungsanalyse« halten sollte. Bayet war beeindruckt und bot ihm den Job in seiner Klinik an. Für Leon war das Angebot die Chance, seiner Vergangenheit zu entfliehen. Mit dem Verlust seiner Frau war Leons Leben aus dem Tritt geraten. Bei dem Flugzeugabsturz war alles in einem gewaltigen Feuer verbrannt. Von seiner Frau Sarah hatte sich überhaupt keine Spur mehr gefunden. Das hatte dazu geführt, dass Leon sich eingeredet hatte, dass seine Frau vielleicht von dem Unglück verschont worden war. Fünfmal war er in den folgenden Jahren nach Thailand geflogen, um eigene Ermittlungen anzustellen, was zu einer Kette von Problemen geführt hatte. Leon zog sich schließlich völlig zurück, vernachlässigte seine Freunde und stürzte sich geradezu manisch in seine Arbeit. In das Haus im Taunus, in dem er zusammen mit Sarah gewohnt hatte, kam er nur noch gelegentlich, um zu übernachten. Meist blieb er in Frankfurt, wo er sich in der Nähe des Universitätskrankenhauses ein kleines Zwei-Zimmer-Apartment gemietet hatte. Er arbeitete jede Nacht und schließ nur noch wenige Stunden.
Da schien das Angebot, an der Klinik in der Provence zu arbeiten, wie ein Wink des Schicksals. Es war für Leon so etwas wie ein neuer Anfang gewesen. Da er bei seiner französischen Mutter und seinem deutschen Vater zweisprachig aufgewachsen war und außerdem vier Semester in Paris studiert hatte, gab es für ihn keine Verständigungsprobleme. Trotzdem war sein deutscher Akzent für Franzosen unüberhörbar. Darum war er für viele Kollegen und Bekannte derDocteur Allemand, und er würde es wohl auch immer bleiben.
Vor Leon glitt die automatische Glastür zur Seite, und er betrat die Empfangshalle des fünfstöckigen Klinikanbaus. Er trug eine Papiertüte der BäckereiLou wie eine Monstranz vor sich her, als er auf Schwester Monique zuging, die in der Patientenaufnahme saß und ihn anstrahlte. Die BäckereiLou in der Avenue Charles backte nicht nur das mit Abstand beste Brot von ganz Le Lavandou, sondern hatte auch eine köstliche Auswahl an hausgemachtem Gebäck zu bieten.
»Ich dachte, ich könnte Sie vielleicht für einPain au chocolat vonLou gewinnen«, sagte Leon. Das war natürlich eine rein rhetorische Frage, denn Schwester Monique, knapp 1,60 Meter groß und ziemlich mollig, war geradezu süchtig nachPain au chocolat.
»Danke,Docteur«, sagte sie und ließ die Tüte blitzschnell in einer Schublade verschwinden. »Aber eigentlich bin ich im Moment auf Diät.«
Leon lächelte, er wusste, dass das Gebäck nicht mal die nächste Stunde überleben würde.
»Gab’s was?«, fragte er. Normalerweise war es um diese Zeit ruhig. Da die meisten Touristen längst wieder abgereist waren, blieb für Leon wenig zu tun. Die Zahl der tödlichen Verkehrsu