Agnes fand lange nicht ins Bett. Alles war so aufregend neu für sie. Ein alter Spruch besagte, dass die Menschen in Lancre mit den Hühnern schlafen gingen und mit den Kühen wieder aufstanden.4 Gespannt verfolgte sie nicht nur die Vorstellung, sondern auch den Abbau der Kulissen, und blieb, bis die letzten Darsteller nach Hause gegangen waren beziehungsweise bis sich die jüngeren Chorsänger auf den Weg in ihre entlegenen Schlafkammern gemacht hatten. Bis niemand mehr da war außer Walter Plinge und seiner Mutter, die schnell noch einmal durchfegten.
Sie ging zur Treppe. Dort hinten gab es keine einzige Kerze. Das Licht der wenigen, die noch im Zuschauerraum brannten, zeichnete düstere Schatten ins tiefe Dunkel.
Die Treppe führte an der hinteren Bühnenwand empor, nur durch ein wackeliges Geländer vom Abgrund getrennt. Über sie erreichte man nicht nur die Speicher und Depots in den oberen Stockwerken, sondern auch den Schnürboden und die geheimen Arbeitsbrücken, auf denen Männer mit Schiebermützen und in grauen Kitteln die Magie des Theaters Wirklichkeit werden ließen, vor allem mithilfe von Flaschenzügen …
Auf einer der Brücken nahm Agnes eine Gestalt wahr, die sich nur durch eine leichte Bewegung verriet. Kniend spähte sie in die Finsternis.
Agnes wich einen Schritt zurück. Die Treppe knarrte.
Die Gestalt fuhr herum. Viereckig flammte ein grelles Licht auf, dessen Strahl Agnes an die Backsteinwand nagelte.
»Wer ist da?« Sie hielt sich geblendet die Hand über die Augen.
»Und wer istda?«, fragte eine Stimme zurück. Und im nächsten Augenblick: »Ach. Du bist … Perdita, nicht wahr?«
Das gleißende Viereck schwang herum, als die Gestalt über den Steg zu ihr herüberturnte.
»André?« Am liebsten wäre sie noch weiter zurückgewichen, doch die Wand ließ es nicht zu.
Und plötzlich war er auf der Treppe, kein Schatten mehr, sondern ein ganz normaler Mensch, mit einer großen Laterne in der Hand.
»Was machst du hier?«, fragte der Organist.
»Ich bin auf dem Weg ins … Bett.«
»Ach so, stimmt.« Er entspannte sich ein wenig. »Einige von euch Mädels schlafen ja unterm Dach. Die Direktion ist der Meinung, das wäre sicherer, als euch nachts allein nach Hause gehen zu lassen.«
»Und was machst du hier oben?«, fragt