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Das Schlimmste war das Warten. Die Ungewissheit, die schlaflosen Nächte, die Magengeschwüre. Kollegen gingen einander aus dem Weg und verriegelten ihre Bürotüren. Sekretärinnen und Rechtsassistenten verbreiteten unter vorgehaltener Hand Gerüchte. Die Stimmung war gereizt, und jeder fragte sich, wen es als Nächsten treffen würde. Die Partner aus der obersten Führungsetage wirkten wie gelähmt und mieden jeden Kontakt mit ihren Untergebenen. Wer wusste schon, wem man bald das Messer in die Brust rammen musste.
Die Gerüchteküche brodelte. In der Abteilung Zivilprozesse habe es zehn Mitarbeiter erwischt – fast richtig, tatsächlich waren es nur sieben. Die Nachlassabteilung sei komplett aufgelöst worden, mitsamt der Leitung – das stimmte. Acht Partner aus der Kartellabteilung hätten sich zu einer anderen Kanzlei gerettet – falsch, zumindest bislang.
Die Atmosphäre war so vergiftet, dass Samantha das Büro möglichst oft verließ, um sich mit ihrem Laptop in ein Café in Lower Manhattan zu setzen und dort zu arbeiten. Einmal saß sie bei schönem Wetter auf einer Parkbank – es war Tag zehn nach dem Kollaps von Lehman Brothers – und betrachtete das hohe Gebäude weiter unten in der Broad Street mit der Hausnummer 110. Die gesamte obere Hälfte war von Scully& Pershing gemietet, der größten Anwaltskanzlei, die die Welt je gesehen hatte und die ihr Arbeitgeber war. Noch, zumindest, denn die Zukunft war alles andere als gewiss. Zweitausend Anwälte waren bei der Großkanzlei beschäftigt, in zwanzig Ländern, die Hälfte davon in New York, tausend Juristen zwischen der dreißigsten und der fünfundsechzigsten Etage. Wie viele von ihnen würden am liebsten aus dem Fenster springen? Samantha konnte es nicht einschätzen, aber sie war sicher nicht die Einzige. Die größte Kanzlei der Welt schnurrte zusammen wie ein Luftballon, nicht anders als die Konkurrenz. Die Welt der Großkanzleien war genauso in Panik wie die Hedgefonds,Investmentbanken, Endverbraucherbanken, Versicherungsgesellschaften, die Regierung in Washington und die Einzelhändler in der Main Street.
Tag zehn verging ohne Gemetzel, ebenso Tag elf. Am zwölften Tag kam ein Funke Optimismus auf, als Ben, einer von Samanthas Kollegen, das Gerücht mitbrachte, die Londoner Kreditmärkte lockerten angeblich ein wenig die Zügel, sodass unter Umständen bald wieder Gelder zu haben seien. Am späten Nachmittag jedoch war klar, dass an diesem Gerücht nichts dran war. Und so warteten sie weiter.
Zwei Partner leiteten bei Scully& Pershing die AbteilungGewerbliche Immobilien. Der eine stand kurz vor dem Rentenalter und war bereits vor die Tür gesetzt worden. Der andere war Andy Grubman, vierzig, Bürohengst. Er hatte noch nie einen Gerichtssaal von innen gesehen. Als Partner bewohnte er ein schönes Büro mit Fernblick auf den Hudson, dessen Wasser er jedoch seit Jahren nicht mehr wahrgenommen hatte. Auf einem Regal hinter seinem Schreibtisch stand zwischen Diplomen undAuszeichnungen eine Sammlung Hochhausmodelle, die er »meine Türme« nannte. Sobald eines seiner Objekte fertiggestellt war, beauftragte er einen Bildhauer, eine Miniatur davon anzufertigen. Eine noch kleinere Version davon schenkte er dann den Mitgliedern »meines Teams«. In den drei Jahren, die sie fürS&Parbeitete, hatte Samantha sechs »Türme« gesammelt. Mehr würden es nicht werden.
»Setzen Sie sich«, ordnete er an und schloss die Tür. Samantha nahm neben Ben und Izabelle Platz. Die drei Angestellten blickten beim Warten starr auf ihre Füße. Samantha verspürte den Drang, Bens Hand zu ergreifen, in Panik wie eine Gefangene vor einem Erschießungskommando. Grubman sank auf seinen Stuhl. Ohne sie anzusehen, bedacht, die Sache möglichst ras