: Peter Stamm
: Wenn es dunkel wird Erzählungen
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104031354
: 1
: CHF 14.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 192
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Peter Stamm erzählt uns in seinen Geschichten davon, wie sich die Welt verwandelt, wenn es dunkel wird. Georg geht bald in Rente. Im Büro wird er schon nicht mehr beachtet, zu Hause wartet kein Essen auf ihn. Er scheint sich langsam aufzulösen und ein namenloser Schrecken erfasst ihn. Sabrina ist geschmeichelt, als ein Künstler sie anspricht. Aber als sie sich zum ersten Mal als Kunstwerk sieht, schaudert sie. David möchte eine Bank überfallen. Eine Maske hat er schon dabei, eine Eichhörnchen-Maske. Er wird sie heute aber noch nicht benutzen. Er hat gehört, dass Bankräuber oft wochenlang alle Einzelheiten beobachten, bevor sie zuschlagen. Er beginnt zu lauern. Wir haben uns an die Welt gewöhnt, und plötzlich wird sie uns unheimlich. Was, wenn unsere Phantasien realer werden als die Wirklichkeit? Peter Stamms Geschichten erzählen von der Brüchigkeit der Welt, von Schwindel und gespenstischer Liebe.

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.Literaturpreise:Rheingau Literatur Preis 2000Bodensee-Literaturpreis 2012Friedrich-Hölderlin-Preis 2014Cotta Literaturpreis 2017ZKB-Schillerpreis 2017Solothurner Literaturpreis 2018Schweizer Buchpreis 2018

Nahtigal


David hatte die Maske mitgenommen, obwohl er sicher war, dass er sie heute noch nicht brauchen würde, eine Eichhörnchenmaske, die den ganzen Kopf bedeckte. Er hatte sie als Kind zum Geburtstag geschenkt bekommen, als er längst keine Lust mehr hatte, sich zu verkleiden, vielleicht, weil er da schon in dem Alter war, in dem es einem vorkommt, als sei man immer verkleidet, auch wenn man es nicht will. Sein Körper war ihm vorgekommen wie ein schlecht sitzendes Kostüm, das seine wirkliche Persönlichkeit, das, was er sein wollte, was er zu sein glaubte, zu etwas Unförmigem verzog. Warum ausgerechnet ein Eichhörnchen, warum nicht ein Wolf oder wenigstens eine Eule? Irgendwann musste er seine Mutter auf die Maske hingewiesen haben, schau mal, das Eichhörnchen, wie süß. Und Jahre später, als sie nicht gewusst hatte, was sie ihm schenken sollte, hatte sie sich daran erinnert und die Maske, ohne viel nachzudenken, gekauft. David hatte sie ein einziges Mal angezogen, an jenem Geburtstag, und seiner Mutter vorgespielt, er freue sich darüber. Danach hatte er sie zu unterst in seinem Schrank verborgen, ein beschämender Beweis dafür, wie wenig sie ihn kannte, wie wenig irgendjemand ihn kannte. Er schielte in die Plastiktüte, die neben seinem Stuhl stand, und musste heimlich lachen, wenn er daran dachte, wofür die Maske nun gut sein sollte. Seine Mutter würde sich wundern, alle würden sich wundern, wozu das Eichhörnchen imstande war.

An diesem Morgen, gleich nachdem seine Mutter zur Arbeit gegangen war, hatte David sich im Geschäft krankgemeldet. Sein direkter Vorgesetzter war in den Ferien, und die Sekretärin hatte nicht nachgefragt, als er gesagt hatte, er sei erkältet. Jetzt, während der Sommerferien, war ohnehin nichts los, und die Lehrlinge wurden mit allen möglichen sinnlosen Arbeiten beschäftigt. Auf dem Dachboden gab es einen unerschöpflich erscheinenden Vorrat an alten Briefumschlägen und Rechnungsformularen, auf die noch die alte Telefonnummer gedruckt war, und wenn gar nichts anderes mehr zu tun war, versammelten sich die Lehrlinge im Sitzungszimmer unter dem Dach, wo es im Sommer muffig und heiß war, und überklebten die alten Nummern mit kleinen Etiketten in Leuchtfarben, auf denen die neue Nummer stand, die auch schon seit Jahren galt. Die meiste Zeit aber ulkten sie herum, halb träge, halb aufgekratzt, oder trafen sich in der Kaffeeküche oder in einem der Sitzungszimmer, immer auf der Hut, von keinem Vorgesetzten beim Nichtstun erwischt zu werden.

David hatte um zehn in der Stadt sein wollen, aber nachdem er im Geschäft angerufen hatte, war er noch einmal ins Bett gekrochen, als sei er tatsächlich krank, und war wieder eingeschlafen. So saß er erst um elf vor der kleinen Kneipe im Außenviertel und schaute zur Bankfiliale hinüber, die in einem Einfamilienhaus untergebracht war. Es war heiß auf dem kopfsteingepflasterten Vorplatz, und die Sonne blendete ihn. Seit er angekommen war, war niemand in die Bank hineingegangen oder herausgekommen, nur zwei Frauen mit Fahrrädern standen vor dem Gebäude auf dem Gehsteig und unterhielten sich. Die Wirtin kam. Sie musste über sechzig sein, aber sie war dünn wie ein junges Mädchen, ihr Haar war blond gefärbt, und sie trug eine hautenge lilafarbene Jeans. Sie öffnete den Sonnenschirm, der neben Davids Tisch stand, und fragte nach seinen Wünschen. Er bestellte einen Milchkaffee. Erst seit er in der Lehre war, trank er Kaffee, nicht weil er den Geschmack mochte, sondern weil alle Kaffee tranken und es irgendwie Teil des Erwachsenseins zu sein schien. Auch Alkohol trank er erst seit kurzem und nur an den Firmenanlässen, von denen es viele gab zu allen möglichen Gelegenheiten, Betriebsausflüge und Sommerfeste und Weihnachtsessen, auf die David sich zugleich freute und vor denen er sich immer ein wenig fürchtete.

Elf Uhr dreiundzwanzig. Ein Mann in Motorradkleidung und mit Helm betritt die Bank, schrieb er in ein kleines Heft, das er extra zu diesem Zweck angeschafft und mitgebracht hatte. Ein