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Warum er den Hörer abgenommen hatte, konnte er sich später nicht mehr erklären.
Er stand in der großen Unterführung des Berner Hauptbahnhofs und wollte von einem der wenigen öffentlichen Telefonapparate, die es noch gab, seine Frau anrufen, um ihr zu sagen, dass er mit einem späteren Zug komme, hatte auch schon seine Karte eingesteckt, als der Apparat neben ihm klingelte. Er schaute sich um, um zu sehen, ob da jemand war, der sich vielleicht zurückrufen ließ, aber erst am übernächsten Apparat sprach ein fremdländischer Mann eindringlich und leise in die Muschel, ohne auch nur den Kopf zu drehen. Da machte er einen Schritt, hob den Hörer und sagte: »Hallo?«
»Ernst«, sagte eine weibliche Stimme, »bist du es?«
Er erschrak. Er hieß Ernst.
Er zögerte einen Moment und sagte dann: »Ja. Wer spricht?«
»Ich«, sagte die Frau am andern Ende.
»Und –«
»Ich brauche deine Hilfe.«
»Aber –«
»Bitte.« Die Stimme klang verängstigt.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ernst, ich bitte dich. Wir sind doch per Du.«
»Natürlich. Und wie kann ich helfen?«
»Komm bitte bei mir vorbei.«
»Ich muss leider –«
»Das hast du gestern schon gesagt. Komm bitte sofort. Ich muss dir etwas geben.«
Hier, sagte er sich später, hier hätte er aufhängen sollen, denn hier hatte er aus irgendeiner Neugier heraus begonnen, sich auf das Spiel einzulassen, indem er fragte:
»Wo wohnst du denn?«
»An der Gerechtigkeitsgasse, das weißt du doch.«
»Sicher«, sagte Ernst, »aber die Nummer?«
Als ihm die Frau die Nummer sagte, fragte er sich, ob er die Stimme kenne. Sie gehörte zweifellos einer alten Frau, war eher tief und ein bisschen brüchig, aber es kam ihm keine Person dazu in den Sinn, mit der er vertraut gewesen wäre. Doch er hörte sich sagen:
»Also gut, ich komme.«
Er hängte auf und merkte im selben Moment, dass er vergessen hatte, die Frau nach ihrem Namen zu fragen. Wieso auch? dachte er dann, wir kennen uns ja, und immerhin habe ich die Hausnummer, drehte sich um und schlug die Richtung zur Altstadt ein. Nach ein paar Schritten kam ihm in den Sinn, dass er seine Taxcard im andern Apparat vergessen hatte, ging noch einmal zurück und sah bereits eine junge Frau in den Hörer sprechen, höchst vergnügt, wie ihm schien, denn sie benutzte wohl seine Karte.
Dann ging er zur nächsten Aufgangstreppe, wandte sich oben nach rechts, ging am Hotel Schweizerhof vorbei und bog dann in die Straße ein, an deren Ende die Gerechtigkeitsgasse lag. Obwohl er eine Zeit lang in Bern gearbeitet hatte, musste er sich immer wieder vergegenwärtigen, wie die Abfolge der Straßennamen auf der großen Hauptverkehrsader war, die zur Aare hinunter führte, Kramgasse, Spitalgasse, Marktgasse, oder Marktgasse, Spitalgasse, Kramgasse, oder Spitalgasse, Marktgasse, Kramgasse, jeder Abschnitt hatte den Luxus eines eigenen Namens, aber der letzte Abschnitt vor de