: Alexa Hennig von Lange
: Zwischen den Sommern Roman
: DuMont Buchverlag
: 9783832160760
: Heimkehr-Trilogie
: 1
: CHF 17.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Isabell zieht mit ihrer kleinen Familie in die Nähe ihrer Großmutter Klara. Zufällig entdeckt sie in deren Haus einen Karton mit Tonbandkassetten. Darauf offenbart die alte Frau, die Isabell immer als unnahbar empfunden hat, ein Geheimnis, das sie sich am Ende ihres Leben von der Seele reden wollte - und das in ihrer Familie bis heute nachwirkt. Sommer 1939: Klara und Gustav heiraten, und obwohl es nur eine kleine Feier ist, haben alle das Gefühl, dass etwas Großes beginnt. Ihr Zuhause richten sie sich in einem Häuschen neben dem Frauenbildungsheim ein, das Klara für die Nationalsozialisten leitet. Das jüdische Mädchen Tolla, das Klara über Jahre bei sich versteckt hat, soll mit einem Kindertransport ins sichere Ausland kommen. Nun scheint ein Stück Normalität möglich, wenigstens für kurze Zeit. Denn dass dies der letzte Sommer vor dem Krieg sein wird, ist überall zu spüren. Wenig später wird Gustav eingezogen und Klara, inzwischen schwanger, muss ihren Weg durch das Dritte Reich, zwischen Schuld und Verantwortung, allein finden. Als der Krieg schließlich in die Stadt am Harz zurückkommt, stellt sich für Klara die Frage, ob ihr das Leben wirklich keine andere Wahl gelassen hat.? Zwischen den Sommern< ist nach>Die karierten Mädchen< der zweite Band der>Heimkehr-Trilogie<, die vom Ende der Zwanziger bis in die Sechzigerjahre reicht. Sie ist inspiriert von den Erinnerungen von Alexa Hennig von Langes Großmutter, die diese im hohen Alter auf mehr als einhundertdreißig Tonbandkassetten aufgenommen hat.

1.

Vorsichtig setzte Klara einen Fuß über die Türschwelle auf die Terrasse. Mit der Hand klammerte sie sich am Türrahmen fest, dann zog sie den anderen Fuß nach und stellte ihn auch auf die Terrasse. Sie hörte die Tauben weit hinten in der Rotbuche gurren. Vor ihr lag ihr Garten. Rechts und links zogen sich die hohen Buchenhecken bis zum rückwärtigen Gartenzaun. In den Rabatten blühten die unterschiedlichsten Blumen, das Rosa der Tränenden Herzen musste jetzt besonders prächtig leuchten. Der Himmel war verhangen, die Sonnenstrahlen schafften es noch nicht, durch die Wolkendecke zu brechen. Jedenfalls fühlte Klara kein direktes Licht auf ihrem Gesicht oder ihren Händen. Es war ein später Augustmorgen und der Rasen vor ihr schimmerte in diesem bläulichen Grün. War es nicht so?

Was sie vorhatte, war nicht ganz ungefährlich. Noch lag ihre Hand sicher auf dem Türrahmen. Sie trug ihren dunkelblauen Mantel. An einer dünnen Halskette baumelte die goldene Uhr, die sie als Vierzehnjährige von ihren Eltern zur Konfirmation bekommen hatte. Ihr langes graues Haar hatte sie zu einem strengen Dutt gebunden. Und natürlich hatte sie einen Hut auf. Ohne Hut verließ sie niemals das Haus. Egal, wie heiß und schwül es draußen war. Ob sie auf die Straße ging oder nur in ihren eigenen Garten. Langsam ließ sie den Türrahmen los und machte einen tastenden Schritt über die Steinplatten.

Klara war einundneunzig Jahre alt. Sie war blind. Ihre Töchter hatten sie gebeten, auf keinen Fall allein in den Garten zu gehen. Schon gar nicht bis zum rückwärtigen Zaun. Und genau dorthin wollte sie heute einen kleinen Ausflug machen. Es kam ihr nicht unvernünftig vor, sondern eher wie ein kleines Abenteuer. Gleichzeitig wusste sie, dass es wahrscheinlich mit ihr vorbei war, wenn sie stürzte. Die Nachbarn auf der linken Seite, eine Familie, deren Kinder im Sommer hinter den hohen Hecken im Planschbecken herumsprangen, waren in den Urlaub gefahren. Sie würden ihre Hilferufe also nicht hören. Die Dame, die im Haus auf der rechten Seite wohnte, war sehr schlecht zu Fuß. Zweimal am Tag kamen dasEssen auf Rädern und der Pflegedienst zu ihr. Ansonsten blieb Frau Clasen nichts anderes übrig, als auf die Besuche ihrer Kinder zu warten. Sie würde also auch nicht helfen können, falls Klara stürzte.

So eintönig wie ihre alte Nachbarin wollte Klara jedenfalls nicht ihre Tage verbringen. In ihrem ganzen Leben war sie nicht ein einziges Mal gefallen. Sie hatte sich noch nie verletzt. Warum sollte ihr jetzt etwas passieren? Ihr jüngerer Bruder Kurtchen hatte schon als Vierjähriger seinen Zeigefinger in der Häckselmaschine verloren. Aber sie hatte sich nicht einmal beim Kartoffelschälen in den Finger geschnitten. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern.

Weit über ihr kreuzte ein Flugzeug den Himmel. Drinnen im Haus klingelte das Telefon. Das Klingeln drang durch den Flur, das Esszimmer und die angelehnte Terrassentür. Wahrscheinlich war es eine ihrer Töchter, die versuchte, sie zu erreichen. Es gab ja sonst niemanden, der sie anrufen würde. Ihre drei Töchter waren liebe Kinder. Kinder, die sich – obwohl sie alle ihr eigenes mehr oder weniger funktionierendes Leben hatten – um sie sorgten und verlässlich nachfragten, ob bei ihrer Mutter alles in Ordnung sei. Das war natürlich sehr schön und genau zu solch umsichtigen Menschen hatte Klara ihre Mädchen auch erzogen. Doch manchmal übertrieben sie es etwas mit ihrer Fürsorge. Glücklicherweise war ihr Sohn Georg beruflich zu stark eingespannt, um sich ebenfalls Sorgen um sie zu machen.

Das Telefon klingelte und Klara wusste, wenn sie nicht abhob, würden ihre Töchter als Nächstes vermuten, sie wäre die Treppe hinuntergestürzt oder im Badezimmer ausgerutscht. Kurz vor Weihnachten, als sie einmal keine Lust gehabt hatte, ans Telefon zu gehen, waren ihre