Kapitel 1
Internationaler Flughafen Tokio-Haneda
«Verhalt dich einfach unauffällig, ganz unauffällig», wiederholte Fiona ihr vertrautes Mantra, während sie einbeinig wie ein Storch dastand, den linken Fuß an der Wade des rechten Beines rieb und dabei an der Spitze ihres langen blonden Pferdeschwanzes zupfte. Was angesichts der Tatsache, dass sie von lauter kleinen Frauen umringt war, die wie Ameisen umherhuschten, ziemlich albern war. Aber neben diesen zarten, feenhaften Wesen mit ihren anmutigen Zügen und ihren dichten, seidig glänzenden Haaren kam Fiona sich vor wie ein unförmiges Mammut – hochgewachsen, wie sie war –, das sich aus Versehen auf einem Pariser Laufsteg wiederfand. Einen schrecklichen Moment lang fühlte sie sich in ihre Schulzeit zurückversetzt, umgeben von den coolen Mädchen mit ihren abschätzigen Blicken.
Sie bemühte sich, tief durchzuatmen und sich ein wenig zu beruhigen, doch es klang wie ein gequältes Japsen. Um sie herum wurden die Ankommenden von Männern in makellosen Anzügen begrüßt, die Schilder mit Namen in die Höhe hielten. Es fühlte sich an wie damals im Sportunterricht, als sie immer bis zuletzt rumstand, weil keine der Mannschaften sie wählen und als Niete im Team haben wollte.
Fiona suchte weiter die weißen Schilder nach ihrem Namen ab. Ihre Ohren dröhnten vom Lärm des großen Flughafens, und in ihrer kribbelnden Wirbelsäule spürte sie die wachsende Anspannung. Ihr Flugzeug war bereits vor einer Stunde gelandet, ihre Koffer waren vom Gepäckband gelaufen, und doch musste sie immer noch warten. Am liebsten hätte sie noch einmal auf die Reiseunterlagen gesehen, die in ihrer Tasche steckten, doch das hätte zu unsicher gewirkt.Vertrau einfach diesem Stück Papier und den Abmachungen, die darauf stehen, ermahnte sie sich. Sie war hier. Sie war mutig. Es war kein Geheimnis, dass sie sich weit außerhalb ihrer Komfortzone befand, aber sie würde es durchziehen. Trotz der Bedenken ihrer Mutter war das hier die Chance ihres Lebens – eine Chance, die sie niemals für möglich gehalten hätte.
Nicht nur, dass sie in Verbindung mit der Kunstfakultät der Universität Tokio einen vollbezahlten Aufenthalt in Japan gewonnen hatte; es bot sich dazu noch die Möglichkeit, ihre Fotografien anschließend im Japanzentrum in Kensington im Westen Londons auszustellen, das empfand sie als die absolute Krönung. Sie war so dankbar dafür, dass sie sich damals für einen Abendkurs an einer der Londoner Unis eingeschrieben hatte.
Sie schob eine Hand in die tiefe Tasche ihres Mohairmantels und rieb mit den Fingern über das glatte Elfenbein desNetsuke, der kleinen Schnitzfigur, die früher einmal zu einem traditionellen japanischen Gewand gehört hatte. Dieses kleine Kaninchen begleitete sie auf all ihren Reisen, es war das Einzige, was sie von ihrem Vater besaß. Er war gestorben, als sie noch ein Baby gewesen war. Die Figur hatte in ihr ein vages Interesse an Japan geweckt, sodass sie sich sogar ohne Drängen ihrer sonst so bestimmenden Freundin Avril für den Wettbewerb angemeldet hatte. Avr