: Miriam Georg
: Das Tor zur Welt: Träume Roman
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644012790
: Die Hamburger Auswandererstadt
: 1
: CHF 10.00
:
: Historische Romane und Erzählungen
: German
: 656
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Stadt der Tränen, Stadt der Träume - die Hamburger Auswandererhallen. Die neue dramatische Saga vor einzigartiger Kulisse von Bestsellerautorin Miriam Georg! Jeden Tag arbeitet die junge Ava bis zur Erschöpfung auf dem Moorhof im Alten Land. Jede Nacht träumt sie vom Meer. Die Erinnerung an ihre Familie ist von Jahr zu Jahr mehr verblasst, kaum weiß sie noch den Namen ihrer Mutter. Irgendwann will Ava sie in Amerika wiederfinden.  Claire Conrad ist reich. Sie ist schön. Und in ihrem willensstarken Kopf stehen die Zeichen auf Rebellion. Sie will reisen, die Welt sehen, aus den strengen Regeln der Gesellschaft ausbrechen, sie träumt davon, dass ihr Leben endlich anfängt! Wenn wenigstens der Reedersohn Magnus Godebrink um ihre Hand anhalten würde ... Hamburg ist in Aufruhr. Die Cholera hat ihre Spuren in der Stadt hinterlassen. Zahllose Reisende passieren die Hafenmetropole auf ihrem Weg in die Neue Welt, getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben. In der Auswandererstadt begegnen sich Ava und Claire - zwei Frauen, verschieden wie Ebbe und Flut. Doch das Schicksal schweißt sie untrennbar zusammen. Die mitreißende Saga von Bestsellerautorin Miriam Georg. Für alle Leserinnen und Leser von Lena Johannson, Carmen Korn und Jeffrey Archer.

MIRIAM GEORG, geboren 1987, ist die Autorin des Zweiteilers «Elbleuchten» und «Elbstürme». Beide Bände der hanseatischen Familiensaga wurden von Leserinnen und Lesern gefeiert, sie schafften auf Anhieb den Einstieg auf die Bestsellerliste und wurden zum Überraschungserfolg des Jahres. Die Autorin hat einen Studienabschluss in Europäischer Literatur sowie einen Master mit dem Schwerpunkt Native American Literature. Wenn sie nicht gerade reist, lebt sie mit ihrer gehörlosen kleinen Hündin Rosali und ihrer Büchersammlung in Berlin-Neukölln.

Teil 1


1892

Altes Land

1


Sie träumte wieder vom Meer. Es war immer da, seit sie denken konnte. Irgendwo an den Rändern der Nacht zog es sich durch die Tiefen ihres Bewusstseins, wie ein Lied, das einem nicht aus dem Kopf geht. In ihrer Kammer, zwischen Schlaf und Wachen, hatte sie in der Finsternis einen Moment das Gefühl zu sinken. Sie spürte das Wasser, das an ihren Haaren zog, ihre Lungen füllte. Eine endlose Tiefe unter ihren Füßen. Und obwohl sie wusste, dass sie im Traum gerade ertrank, war da keine Angst. Im Gegenteil, es fühlte sich ruhig an. Ruhig und warm. Als sollte es so sein.

Als wäre sie da, wo sie hingehörte.

Ava erwachte mit einem Seufzer auf den Lippen. Sobald sie das Stroh fühlte, das durch das Laken stach, den modrigen Geruch des Holzes wahrnahm, die Kühe schnauben hörte, die auf der anderen Seite der Wand auf den Morgen warteten, sehnte sie sich zurück in den Traum. Einen Moment lang sah sie ein Bild. Eine weiße Gardine wehte im Wind. Eine Frau und ein Mann standen vor einem Haus und lächelten. Es roch nach warmem Brot. Seufzend drehte sie sich um, aber genau in diesem Moment krähte draußen der erste Hahn.

Es kann nicht schon Zeit sein, dachte sie verzweifelt, wie an jedem einzelnen Tag, an den sie sich erinnerte. Sie war doch eben erst ins Bett gefallen, hatte eben erst gedacht, dass ihr Rücken keine einzige Minute Arbeit mehr aushalten würde, dass sie sicher hundert Jahre schlafen könnte und trotzdem noch müde sein würde.

Aber der Hahn krähte ein zweites Mal, und die Kühe auf der anderen Seite der Wand begannen, unruhig mit den Hufen zu scharren.

Sie setzte sich auf und lauschte in sich hinein. Alles tat weh, ihr Kopf war dick und schwer, die Augen brannten. Manchmal, wenn die Tage im Sommer so lang waren, als würden sie niemals enden, stellte sie sich vor, sie wäre die schlafende Prinzessin aus dem Märchenbuch in der Stube. Der Wind würde sich legen, die Dornen der Rosenhecke würden sich um das Haus winden, es mit all seinen Bewohnern verschlucken, und sie würde schlafen. Schlafen, bis sie nicht mehr müde war. Schlafen ohne den brennenden Wunsch beim Aufwachen, sofort wieder in der Nacht zu versinken. Und statt vom Prinzen, der kam und sie wach küsste, würde sie vom Meer träumen.

Und von dem, was dahinterlag.

«Ava!» Ruth donnerte mit der Faust gegen die Wand. «Los!»

Nie sagte sie «Guten Morgen», nie «Steh auf» oder «Es ist Zeit». Immer dieses «Los!», ein gebellter Befehl aus der Nachbarkammer, als wäre es zu viel, mehr als eine Silbe an sie zu verschwenden. Sie könnten es noch ein bisschen hinauszögern, die Kühe würden es aushalten. Aber wenn sie spät aufstanden, verlängerte es den Tag nur nach hinten und machte den nächsten Morgen umso schwerer. In Avas Kammer gab es kein Fenster, doch draußen war es ohnehin noch dunkel. Trotzdem konnte sie den Morgen schon riechen. Im Sommer stahl sich in den ersten Dämmerstunden der Duft nach nassem Heu und Tau durch die Ritzen. In ihm mischten sich Spuren von den Wiesen, den Birken, dem Wasser aus den Marschgräben. Und obwohl es ein betörender Duft war, mochte sie ihn nicht. Er brachte die Welt zu ihr herein. Und sie war zu müde, um es mit der Welt aufzunehmen.

Ava streckte im Dunkeln die Füße vor sich in die Luft, gähnte, wackelte mit den Zehen. Irgendwann wache ich woanders auf, dachte sie,