20. August Samstag
Den Traum der ersten Nacht in einem neuen Heim soll man sich merken, heißt es immer. Das sei wichtig.
Ich habe von Wölfen geträumt. Nicht, dass ich Angst vor diesen Tieren hätte. Für mich sind es Wesen aus einer anderen Welt. Vielleicht wie meine Mutter jetzt. Der Unterschied ist nur, meine Mutter geht und die Wölfe kommen zurück, wie man ständig lesen kann.
Während ich in die Küche gehe, die Kaffeemaschine anschließe und in dem Karton mit der Aufschrift »Küche« nach Kaffeebohnen und Bechern suche, frage ich mich, was der Traum wohl bedeuten könne.
Wölfe. Weshalb träume ich von Wölfen?
Ich habe keine Milch. Funktioniert der Kühlschrank überhaupt? Doch. Immerhin. Aber keine Milch, dann nehme ich halt Zucker.
Im Schlafanzug und mit dem Becher in der Hand gehe ich langsam ins Wohnzimmer. Alle Möbel und Umzugskisten sind da, ich weiß nur nicht, wie aus diesem Chaos jemals ein wohnliches Etwas werden soll. In dem Moment, als ich mich in meinen knallroten Ledersessel sinken lassen will, klingelt es.
Zunächst zögere ich, denn ich bin noch nicht angezogen. Außerdem ist es noch früh, kurz nach sieben Uhr. Dann denke ich, was soll’s, und suche nach dem elektrischen Türöffner, es ist aber nicht nötig, da es direkt an der Türe klopft. Durch die milchige Glasscheibe zeichnet sich ein diffuser Schatten ab.
Ich öffne, und mein Vermieter steht vor der Tür.
»Guten Morgen, Frau Klinger, ich wollte Sie nur kurz begrüßen und Ihnen bei der Gelegenheit gleich die Hausordnung geben, bei nur vier Parteien im Haus ist das wichtig, denke ich. Da steht auch drin, wie es sich mit der Absenkung der Heizung im Winter verhält, hat ja noch Zeit, aber trotzdem, mit dem Müll, mit der Kehrwoche, mit Lärm, also mit lauter Musik oder Kindern, aber die haben Sie ja nicht, Tiere auch nicht, gut so.« Er schenkt mir ein Lächeln und drückt mir ein eingeschweißtes Blatt in die Hand. »So bleibt es sauber«, sagt er noch, bevor er sich mit einem Gruß umdreht. »Ich muss jetzt zur Arbeit. Wenn was sein sollte …«, und damit geht er bereits die abgetretene Holztreppe hinunter.
Ich stelle fest, dass ich eine Gänsehaut habe. Sein fleischiges Babygesicht, überhaupt diese undefinierbare Figur bei einem Mann über fünfzig finde ich unheimlich. Ich schließe die Tür und trage das Blatt mit spitzen Fingern zu meinem Sessel zurück und lass es dort fallen. Ekelhaft, denke ich. Gestern der Strafzettel an meinem Auto, obwohl ich ein großes Blatt mit dem fett geschriebenen Hinweis »Umzug« unter den Scheibenwischer geklemmt hatte, und heute die Hausordnung.
Ich trinke meinen Kaffee, der ohne Milch absolut scheußlich schmeckt, und beschließe, zunächst alles liegen zu lassen und zu meiner Mutter zu fahren. Und unterwegs bei einem Bäcker zu frühstücken, irgendeinen Lichtblick braucht man schließlich am Morgen.
Mit einer Tüte Butterbrezeln und einem strahlenden Lächeln klingle ich bei meiner Mutter. Seitdem die Schlösser irgendwann neu ersetzt wurden, habe ich keinen Hausschlüssel mehr. Ich hoffe, dass sie mir einen gibt.
Und überhaupt hoffe ich, dass sie mir aufmacht.
Ich höre nichts, also klingele ich nach einer Weile noch einmal.
»Eine alte Frau ist doch kein D-Zug«, sagt jemand, und dann steht sie vor mir in der kraftvoll aufgerissenen Tür. Ich staune. Kann ich wieder abreisen?
»Hallo, Mutti«, sage ich, »ich habe Frühstück mitgebracht«, und ich halte die Tüte mit den Butterbrezeln hoch.
»Ein bisschen spät für ein Frühstück«, sagt sie. »Meinst du nicht?«
Damit dreht sie sich um und geht mir voraus. Gerade und trittsicher verschwindet sie in der Küche, die schon in meiner Kindheit mein Lieblingsort war. Von hier aus geht eine Terrassentür direkt in den Garten. Und auch jetzt führt mich mein erster Weg zu der Glastür. Ich drücke den altmodischen Türhebel nach unten, damit sie aufgeht.
»Die Eichhörnchen waren heute Morgen schon da«, höre ich die Stimme meiner Mutter in meinem Rücken, während ich die Tür öffne und frische Luft hereinlasse.
»Schön«, sage ich und drehe mich zu ihr um. »Schön, Mutti, das waren sie früher auch immer.«
»Früher seid ihr hier auf dem Bauch gelegen und habt sie mit Haselnüssen hereingelockt.«
Ich schau auf den schwarz-weiß gekachelten Küchenboden hinab und lächle. Die Bilder, die sich vor mir auftun, streicheln meine Seele.
»Wollen wir einen Kaffee trinken?«, frage ich, und sie nickt und zeigt zu der Kaffeekanne auf der Anrichte. Sie hat ihn immer von Hand aufgebrüht, und eigentlich, das muss man selbst als Besitzerin der tollsten und teuersten Kaffeemaschine zugeben, schmeckt er so auch am besten.
Ich lege meine Brezeltüte auf den weiß lackierten Tisch, an dem wir auch früher schon gefrühstückt haben, und spüle die Kaffeekanne aus. Sie ist blitzsauber. Heute Morgen hat sie jedenfalls noch keinen Kaffee getrunken. Ich lasse mir nichts anmerken, stelle Wasser auf, gebe Pulverkaffee direkt in die Kanne und warte ab.
»Du siehst gut aus«, sage ich und lächle ihr zu. Sie steht am Fenster, beide Hände nach hinten in den Sims gekrallt, als wollte sie sich festhalten. Wie zerbrechlich sie geworden ist. Und obwohl sie ein graues Kostüm mit einer cremefarbenen Schleifenbluse trägt und auf den ersten Blick aussieht wie früher, adrett, immer gepflegt, sehe ich auf den zweiten B