: John Galsworthy
: Weltbrüder
: OTB eBook publishing
: 9783987445804
: Classics To Go
: 1
: CHF 1.60
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: Belletristik
: German
: 316
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auszug: Am Nachmittag des letzten Apriltages 1900 überzog ein wallendes Meer von kleinen, zerrissenen Wölkchen die dünne Luft in der High Street im Kensington-Viertel. Dieses fließende Gewoge von Nebeln, die fast den ganzen Horizont bedeckten, kämpfte gegen ein kleines Stückchen blauen Himmels an, das da, beinahe sternförmig, noch hell schimmerte, gleich einer einzelnen Enzianblüte inmitten von unabsehbarem Graswuchs. Jedes dieser Wölkchen schien mit unsichtbaren Flügeln versehen, und wie Insekten auf ihrem steten Flug, so scharten sie sich um diese sternartige Blüte, die so klar leuchtete in ihrer fernen Ruhe. Auf der einen Seite ballten sie sich zu wogenden Massen; so eng drängten sie sich an einander, daß weder Form noch Umriß sichtbar ward. Auf der andren Seite schienen sie größer, kräftiger, aus ihren Mitwolken sich lösend, anzustürmen gegen dieses Stückchen Schimmer des Ewigen. Unaufhörlich die Wandlung jener Millionen einzelner Nebelschwaden, unwandelbar die Stetigkeit jenes einen stillen, blauen Sterns.

Erstes Kapitel


Am Nachmittag des letzten Apriltages 1900 überzog ein wallendes Meer von kleinen, zerrissenen Wölkchen die dünne Luft in der High Street im Kensington-Viertel. Dieses fließende Gewoge von Nebeln, die fast den ganzen Horizont bedeckten, kämpfte gegen ein kleines Stückchen blauen Himmels an, das da, beinahe sternförmig, noch hell schimmerte, gleich einer einzelnen Enzianblüte inmitten von unabsehbarem Graswuchs. Jedes dieser Wölkchen schien mit unsichtbaren Flügeln versehen, und wie Insekten auf ihrem steten Flug, so scharten sie sich um diese sternartige Blüte, die so klar leuchtete in ihrer fernen Ruhe. Auf der einen Seite ballten sie sich zu wogenden Massen; so eng drängten sie sich an einander, daß weder Form noch Umriß sichtbar ward. Auf der andren Seite schienen sie größer, kräftiger, aus ihren Mitwolken sich lösend, anzustürmen gegen dieses Stückchen Schimmer des Ewigen. Unaufhörlich die Wandlung jener Millionen einzelner Nebelschwaden, unwandelbar die Stetigkeit jenes einen stillen, blauen Sterns.

Drunten auf der Straße, unter dem steten Wogen der vielen sanft beschwingten Wölkchen drängten sich Männer, Frauen, Kinder, neben ihren Mitgeschöpfen, den Pferden, Hunden, Katzen; sie alle gingen in heiterer Frühlingsstimmung ihren Geschäften nach. Sie strömten, hasteten dahin; und der Lärm ihres geschäftigen Treibens schwoll auf zu einem gewaltigen Brausen: »Ich – Ich – Ich!«

Am dichtesten vielleicht war das Gedränge vor dem riesigen Kaufhaus von Rose und Thorn. Jede Menschengattung, von der vornehmsten bis zur geringsten, war da vertreten unter denen, die an den zahllosen Eingängen vorüberzogen. An dem Schaufenster für Kostüme stand eine schlankgewachsene, anmutige Frau, aus deren Mienen man förmlich lesen konnte, was sie dachte: »Es ist ein richtiges Enzianblau! Aber ich weiß nicht, ob ich mir's leisten darf bei all dem Elend ringsumher!«

Ihre grünlichgrauen Augen, die, vor Scheu, ihre Empfindung zu verraten, oft ironisch blickten, schienen ein Kleid in der Auslage bis in die letzten Möglichkeiten seiner Begehrenswürdigkeit zu prüfen.

»Vielleicht gefalle ich Stephen gar nicht darin!« Bei diesem Zweifel begann sie mit ihren behandschuhten Fingern eine Falte in die Vorderbahn ihres Kleides zu kniffen. In diese kleine Falte gab sie ihr eigenstes Ich hinein, den Wunsch, zu besitzen und die Scheu vor dem Besitz, den Wunsch, zu sein und die Furcht vor dem Sein. Ihr Schleier, der drei Zentimeter vom Gesicht entfernt, über den Rand des Hutes hinabfiel, umhüllte mit seinem Gewebe ihre feinen, unentschlossenen Züge, die etwas zu stark hervortretenden Backenknochen, die Wangen, die leicht eingefallen waren, als hätte sie die Zeit ein wenig zu oft geküßt.

Der alte Mann mit dem langen Gesicht, den papageiähnlich umr