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Es war der Tag der Eröffnung der Olympischen Sommerspiele in Berlin, der Tag, an dem die Welt ein großes Fest veranstaltete, und Elise stand vor der grausamsten Entscheidung, die ein Mensch treffen konnte – jener zwischen ihrem Mann und ihrem Kind.
Immer wieder durchmaß sie die Suite des HotelsAdlon mit schnellen Schritten, blieb am Fenster stehen, schob die Gardine zur Seite und warf einen Blick auf das Brandenburger Tor, als sei von dort Hilfe zu erwarten. Die Straßen waren mit zahllosen Hakenkreuzfahnen und den Flaggen der neunundvierzig Nationen geschmückt, die an der Olympiade teilnahmen. Ein Strom von Menschen bewegte sich auf dem Boulevard Unter den Linden von Ost nach West. Die Euphorie drang von allen Seiten an Elises Ohren, von draußen durch die Fenster und von den Fluren desAdlon durch die Tür. Es war wie ein stechender Schmerz, zusätzlich zu den anderen Leiden, die Elise gerade ausstand.
Sie griff zum Telefon. »Empfang? Ich erwarte ein Gespräch, das mir für neun Uhr avisiert wurde. Nun ist es bereits zehn, und ich … Was meinen Sie mit überlastet? Das Telefonat ist äußerst wichtig.«
Ungeduldig lauschte sie den nichtssagenden Beschwichtigungen des Rezeptionisten.
»Die Olympischen Spiele sind mir egal, hören Sie? Mein Mann versucht, mich zu erreichen, es geht um Leben und Tod … Nein, ich werde mich nicht beruhigen. Tun Sie einfach Ihre Arbeit.«
Sie warf den Hörer auf die Gabel. Natürlich war sie ungerecht. Hunderte von Hotelgästen wollten ihre ersten Eindrücke von den Feierlichkeiten nach Hause melden. Das Hotel war ausgebucht. Für zwei Wochen war Berlin so etwas wie die Welthauptstadt, und dasAdlon war die beste Adresse. Absichtlich hatte Elise übertrieben, als sie von Leben und Tod sprach, und zudem verschwiegen, dass der Anruf, den sie erwartete, aus dem Gefängnis kommen würde. Dieses Detail wäre einer bevorzugten Bearbeitung durch die Telefonzentrale gewiss nicht förderlich gewesen. Der Gedanke jedoch, dass Isaac sie wegen einer pompösen Nazi-Parade nicht erreichte und sie seine Stimme, die sie seit Monaten entbehrte, nicht hörte, ließ sie fast verrückt werden.
Im Zimmer nebenan quengelte ihr Sohn, der kleine Noah. Mit seinen zwei Monaten war er in einem Alter, in dem selbst seine Quengelei Elises Mutterherz höherschlagen ließ.
Sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer. »Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Er hat schon wieder Hunger«, antwortete Biene und legte den Säugling an die Brust. Sie war für eine Frau recht groß und korpulent und hatte Wangen so rot wie Weihnachtssterne.
Elise hätte Noah gerne selbst gestillt, aber das war eines der Dinge, in der sie ihre Erziehung über ihren Instinkt stellte. Eine Frau ihres Standes tat so etwas nun mal nicht selbst, schon gar nicht, wenn sie Mitte vierzig war und bereits Großmutter hätte sein können. Biene, die eigentlich Eberhardine hieß, war eine mehr als würdige Stellvertreterin. Seit vielen, vielen Jahren in den Diensten der Familie Blankenburg, hatte sie sich zum ersten Hausmädchen und, mehr noch, zum Faktotum entwickelt. Ihr konnte Elise alles sagen, jede Wahrheit und jede Schmach anvertrauen.
»Immer noch nichts?«, fragte Biene, während sie ihre üppige Brust an Noahs Lippen führte.
»Da draußen ist die Hölle los«, sa