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Judith
Sie würde ganz sicher nicht ohne Begleitung zu dieser Taufe gehen, diesmal nicht. Mit klopfendem Herzen blickte Judith auf das vibrierende Telefon, das sie neben dem Waschbecken abgelegt hatte. Warum machte die ganze Angelegenheit sie nur derart nervös?
Eva hatte in den vergangenen Tagen mindestens siebzehn Mal angerufen und ihre Mailbox mit endlosen Nachrichten bombardiert. Fast konnte man meinen, es ginge hier um etwas Wichtiges. Um eine Privataudienz bei der Queen zum Beispiel, oder wenigstens um eine neue Wunderdiät aus Hollywood, eine, bei der manschon beim bloßen Gedanken an Sport einen Hintern wie Beyoncé bekam. Aber natürlich ging es Eva weder um einen gesellschaftlichen Ritterschlag noch um Knackärsche, sondern vor allem darum, den Finger in die Wunde ihrer Zwillingsschwester zu legen.
Unruhig schielte Judith auf das Display, das nun einen weiteren Anruf in Abwesenheit verzeichnete – und im nächsten Moment leuchtete auch schon eine Textnachricht auf.
Bringst du diesmal jemanden mit?
Judiths Magen krampfte sich unheilvoll zusammen.Einatmen, ausatmen. Wenn sie an den Tisch zurückkam, musste sie sich dringend ein zweites Glas Wein einschenken – selbst wenn Heiko sie dann für eine Schnapsnase hielt. Der erste Eindruck zählte, das wusste Judith nach zehn Jahren unzähliger erster Dates besser als jede andere. Aber sie wusste eben auch, dass ein kleines Alkoholproblem immer noch einfacher zu erklären war als das, was der Gedanke an ihre Zwillingsschwester mit ihr machte.
Als hätte sie es geahnt, ließ Eva in diesem Moment die nächste Textnachricht auf Judiths Handy aufleuchten.
Ich muss das dringend wissen. Wegen der Tischordnung!
Die Tischordnung, natürlich. Judith spürte, wie sich ihr Puls noch einmal beschleunigte. Hastig drehte sie den Hahn auf, ließ das kalte Wasser über ihre Handgelenke laufen und schloss die Augen.
»Sie meint es nicht böse. Sie meint esnicht böse …«
Geradezu fieberhaft versuchte sie an das Mantra zu glauben, das ihr Frau Doktor Hufschneider vor ein paar Jahren in der Therapiestunde mit auf den Weg gegeben hatte – aber vergebens. Im Grunde kannte diese Frau sie doch überhaupt nicht! Die hatte so viel Ahnung von Eva wie ein Hafenarbeiter von Rousseaus pädagogischem Spätwerk. Das Verhältnis zu ihrer Zwillingsschwester war nun mal kompliziert – und zwar seit stolzen dreiunddreißig Jahren. Man konnte es leider nicht einfach durch ein paar Kalendersprüche in ein Kuschel-Rock-Konzert verwandeln.
Bei der letzten Taufe vor zwei Jahren hatte Eva Judith an den Kindertisch gesetzt. »Weil du so gut mit Kindern kannst«, hatte sie gesagt und sich dann zu einer Freundin umgedreht, die trotz ihrer vierten Schwangerschaft aussah wie eine Brechbohne auf zwei Beinen. »Meine Schwester ist Lehrerin.«
»Für dieMittelstufe, Eva«, hatte Judith mit einem hilflosen Blick auf die glucksenden Kleinkinder an dem abgelegenen Tisch erwidert. »Meine Schüler rauchen Schnürsenkel und onanieren heimlich in ihre Sportsocken!«
Eva hatte nur schrill aufgelacht und ihrer perfekt frisierten Freundin zugezwinkert. »Den Lehrerjob hält man nur mit einer gehörigen Portion Humor durch.« Dann hatte sie Judith wortlos am Kindertisch stehen lassen.
Doch diesmal würde ihr das nicht passieren, o nein, diesmal würde sie garantiert nicht am Lätzchen-Tisch landen und sich mit halb durchgekautem Brokkoli bewerfen lassen. Sie würde in Begleitung kommen und in ihrer aller Mitte sitzen, und wenn sie sich dafür einen Mann kaufen musste!
Aber so weit würde es wohl glücklicherweise nicht kommen. Judith drehte den Hahn zu und hielt sich die Hände an