: Mary Lawson
: Im letzten Licht des Herbstes Booker Prize Longlist 2021: Roman
: Heyne
: 9783641278656
: 1
: CHF 9.70
:
: Erzählende Literatur
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die kanadische Bestsellerautorin verknüpft drei Schicksale zu einem hoffnungsvollen und zutiefst menschlichen Roman
In der idyllischen Kleinstadt Solace ist ein Teenager spurlos verschwunden. Die siebenjährige Clara ist untröstlich und wartet seit Tagen am Fenster auf die Rückkehr ihrer Schwester. Zu allem Unglück liegt auch noch ihre geliebte Nachbarin, die alte Mrs. Orchard, im Krankenhaus. Eines Abends zieht nebenan ein Fremder ein. Liam Kane wurde das Haus von Mrs. Orchard geschenkt, obwohl er kaum Erinnerungen an sie hat. Ist hier, im Norden Ontarios, ein Neuanfang für ihn möglich? Nach und nach erinnert sich Liam an seine eigene, von Verlust geprägte Kindheit. Und auch Mrs. Orchard stellt sich ihrer Vergangenheit. Denn vor dreißig Jahren gab es einen Vorfall, der für zwei Familien tragische Folgen hatte.

»Es ist eine Freude, Lawsons Bücher zu lesen ... sie sind menschlich, weise und voller Empathie.« The Times

Mary Lawson, aufgewachsen in Ontario, lebt seit 1968 in Surrey, England. Mindestens einmal im Jahr reist sie in ihre Heimat Kanada. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Ihr Debüt »Rückkehr nach Crow Lake« war ein internationaler Erfolg und wurde in 20 Länder verkauft. 2006 wurde sie für den Booker Prize nominiert. Ihr neuester Roman, »Im letzten Licht des Herbstes«, ist in Kanada ein Bestseller.

1
CLARA

Es gab vier Kartons. Große. Mit einer Menge Sachen drin, denn sie waren schwer, das konnte man daran sehen, wie der Mann sie reinschleppte, nach vorn ge­beugt, in den Knien ein bisschen eingeknickt. Er brachte sie in Mrs. Orchards Haus, stellte sie im Wohn­zimmer ab und ließ sie einfach dort stehen. Also war wohl nichts Wichtiges in den Kartons, nichts, was er gleich brauchen würde, wie Pyjamas, sonst hätte er sie ausgepackt.

Die Kartons standen mitten im Zimmer herum, was Clara nervös machte. Jedes Mal, wenn der Mann reinkam, musste er einen Bogen darum machen. Wenn er sie an die Wand gerückt hätte, wären sie ihm nicht im Weg gewesen, und es hätte auch viel ordentlicher ausgesehen. Und weshalb trug er sie überhaupt aus dem Auto ins Haus, wenn er sie dann nicht auspackte? Zuerst dachte Clara, er hätte sie nur für Mrs. Orchard abgeliefert und sie würde sie selbst auspacken, wenn sie wieder nach Hause kam. Aber sie war nicht wieder nach Hause gekommen, und die Kartons waren immer noch da, genau wie der Mann, der dort nicht hingehörte.

Gegen Abend war er in einem großen blauen Auto angefahren gekommen, genau zwölf Tage, nachdem Rose weggelaufen war. Zwölf Tage, das war eine Woche und fünf Tage. Clara hatte an ihrem üblichen Platz am Wohnzimmerfenster gestanden und versucht, nicht zu horchen, während ihre Mutter mit Sergeant Barnes telefonierte. Der Apparat stand im Flur, sodass man immer mitbekam, was jemand am Telefon sagte, egal in welchem Zimmer man sich aufhielt.

Claras Mutter schrie den Polizisten an. »Sechzehn! Rose ist sechzehn, falls Sie das vergessen haben sollten! Sie ist noch ein Kind!« Ihre Stimme brach. Clara presste die Hände auf die Ohren und summte laut vor sich hin, drückte das Gesicht ans Fenster, bis ihre Nase platt gequetscht war. Ihr Summen klang etwas abgehackt, weil es ihr schwerfiel zu atmen, wenn ihre Mutter sich so aufregte; sie musste immer wieder innehalten und Luft holen. Aber das Summen half. Wenn man summte, konnte man es innendrin spüren, nicht bloß hören. Es fühlte sich an wie eine Hummel. Wenn man sich auf das Gefühl und den Klang konzentrierte, schaffte man es, an nichts anderes zu denken.

Dann war da plötzlich ein knirschendes Geräusch, das ihr Summen übertönte, Autoreifen auf Kies, und das große blaue Auto kam in Mrs. Orchards Einfahrt gerollt. Clara hatte den Wagen noch nie zuvor gesehen. Es war ein schnittiger Straßenkreuzer, mit Heckflossen, himmelblau. Zu anderen Zeiten, normalen Zeiten, hätte er Clara vielleicht ganz gut gefallen, aber jetzt war nichts mehr normal, und sie wollte, dass alles so blieb, wie es immer gewesen war. Ohne fremde Autos in der Einfahrt.

Der Motor wurde ausgeschaltet, und ein unbekannter Mann stieg aus dem Wagen. Er schloss die Autotür, stand da und blickte auf Mrs. Orchards Haus. Es sah aus wie immer; dunkelgrün mit weißen Tür- und Fensterrahmen und einer breiten Veranda mit grau gestrichenem Bretterboden und weißem Geländer. Bisher hatte Clara nie darauf geachtet, wie das Nachbarhaus aussah, aber jetzt fiel ihr auf, dass es genau zu Mrs. Orchard passte. Alt, aber nett.

Der Mann ging auf die Veranda zu, stieg die Stufen hoch, zog einen Schlüsselbund aus der Hosentasche, schloss die Tür auf und ging hinein.

Clara war entsetzt. Wo hatte er die Schlüssel her? Der hatte da doch gar nichts zu suchen. Mrs. Orchard hatte ihr gesagt, dass es drei Schlüsselbunde gab (je einer für die Vorder- und Hintertür). Mrs. Orchard hatte einen, Mrs. Joyce