Kapitel 2 - Die Liebe eines Vaters
Ich blieb den ganzen Tag bei meiner Oma und ignorierte die vielen Anrufe meines Vaters auf dem Handy. Nicht, weil ich sauer auf ihn war, immerhin hatte er mir am Ende des Streites den Rücken gestärkt. Verletzt war ich dennoch. Aber ich hatte Angst vor dem, was er sagen würde. Vielleicht, dass ich nach Hause kommen und meine Sachen packen sollte? Dass ich ab sofort nicht mehr willkommen war?
Es war schließlich Oma Maria, die mich bestärkte, nach Hause zu fahren.
»Du musst mit deinen Eltern sprechen. Problemen kann man nicht ewig aus dem Weg gehen, sie holen einen bald ein. Und wenn alle Stricke reißen, kommst du hierher. Meine Tür steht für dich immer offen, Mäuschen«, hatte sie gesagt.
Sie hatte ja recht, ich musste heimfahren, und sei es nur, um meine notwendigsten Sachen zu holen. Ich hatte nicht einmal ein Ladekabel mit und mein Akku stand auf zwanzig Prozent. Was, wenn Romy doch noch anrief? Auch wenn es sehr unwahrscheinlich war, würde ich es mir nicht verzeihen, wäre ich in diesem Moment nicht erreichbar. Allein bei dem Gedanken daran, ihre Stimme zu hören, machte mein Herz einen Sprung und zog sich gleichzeitig krampfhaft zusammen.
Jedes Mal, wenn mein Vater angerufen hatte, hatte ich gehofft, ihren Namen auf dem Display zu lesen, und genauso war ich jedes Mal enttäuscht worden.
Also stand ich nun auf den Treppenstufen vor der Haustür meines Elternhauses, den Schlüssel bereits in der Hand, und dennoch zögerte ich. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche Angst davor gehabt, nach Hause zu gehen und meinen Eltern gegenüberzutreten. Mein Rückzugsort war zu meiner persönlichen Hölle geworden. Nicht nur wegen meiner Eltern, sondern auch wegen der vielen Erinnerungen an Robin.
Die letzten Wochen waren furchtbar gewesen. Zu was er mich alles überredet hatte … Mein Verstand weigerte sich,gezwungen zu denken, denn das würde bedeuten, dass er mich missbraucht hatte, auch wenn ich nie deutlich Nein gesagt hatte. Ich hatte es eher über mich ergehen lassen, weil mir alles egal war und weil es eine seiner Bedingungen war. Aber wenn ich mir das auch noch eingestehen müsste, würde ich vermutlich vollkommen die Kontrolle über mich verlieren.
Ich nahm einen tiefen Atemzug. Die warme Luft des Junis schien mir fast die Lungen zu verbrennen, als würde mir das Atmen nicht schon schwer genug fallen.
Genug des Aufschubs. Ich kratzte den letzten Rest Mut zusammen, den ich noch besaß, und schob den Schlüssel in das Schloss. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Eingangstür, hinter der es ungewöhnlich still war, als wäre niemand da. Der vertraute Geruch meines Zuhauses schlug mir entgegen, der aber anders als sonst dafür sorgte, dass mir schlecht vor Angst wurde. In meinem Bauch zwickte es unangenehm, als hätte ich etwas Verdorbenes gegessen.
Ich ließ die Tür geräuschvoll hinter mir ins Schloss fallen, damit meine Ankunft nicht unbemerkt blieb.
Fast meinte ich schon, die energischen Schritte meiner Mutter zu hören, aber sie blieben aus.
Ich war im Begriff, auf das Wohnzimmer zuzugehen, doch auf der Hälfte des Weges blieb ich stehen, weil mein Vater genau in dessen Türrahmen stehen blieb und diesen mit seinen breiten Schultern ausfüllte.
Für den Bruchteil einer Sekunde erschrak ich, denn es wirkte so, als hätte ich meinen Vater nicht bloß einen Tag, sondern ein ganzes Jahr nicht gesehen