: Jens Wonneberger
: Flug der Flamingos Roman
: Müry Salzmann
: 9783990143001
: 1
: CHF 13.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Das Buch Ihm hätte es genügt, in seinem Leben wenigstens einen Menschen glücklich gemacht zu haben. Nun sitzt er jeden Morgen vor seinem Haus, trinkt Kaffee und raucht. Seine Frau hat er durch einen Unfall verloren, seinen Job als Restaurator aufgegeben. Er möchte nur noch allein sein, nichts mehr tun, am besten an nichts mehr denken. Aber da ist dieser Rimböck, der es in seinem Leben zu etwas gebracht hat und der jeden Morgen pünktlich das Haus gegenüber verlässt. Bis er eines Tages ausbleibt und damit den Ich-Erzähler in Aufregung versetzt. Plötzlich fehlt etwas. Wie soll man in Ruhe an nichts denken, wenn etwas fehlt? Vielleicht ist es ja gar nicht möglich, dass einer allein vor seinem Haus sitzt, nur Kaffee trinkt und Zigaretten raucht. Und mit den Spekulationen um Rimböcks Verschwinden sind sie wieder da, die Erinnerungen an Katharina, die vom Flug der Flamingos träumte, bis ein LKW sie zu Boden riss. Und dann lädt der Postbote auch noch ein Paket bei ihm ab, das - an Rimböck adressiert - aber irgendwie doch für ihn selbst bestimmt ist... Jens Wonneberger, der feine Beobachter, der mit seiner schnörkellosen Sprache eine außergewöhnliche Poesie erzeugt, zeigt sich in Flug der Flamingos einmal[...]'

'Der Autor Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien, darunter 2010 den Sächsischen Literaturpreis, 2017 ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane Goetheallee (2014), Himmelreich (2015), Sprich oder stirb (2017), Mission Pflaumenbaum (2019) - der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war - sowie Flug der Flamingos (2021).'

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An diesem Morgen geschah etwas Seltsames. Es war eigentlich ein ganz gewöhnlicher Morgen, ein Morgen an der Kante des Sommers, Ende September, vielleicht etwas kühl für die Jahreszeit, und doch. Etwas war anders. Das heißt, im Wesentlichen geschah nichts, außer dass Rimböck, mein Nachbar, der sonst an jedem Werktag mit einer durch nichts zu erschütternden Regelmäßigkeit pünktlich um acht sein Haus verließ, diesmal ausblieb. Nicht, dass ich auf ihn gewartet hätte, ich wartete schon lange auf niemanden mehr, schon gar nicht auf Rimböck, aber ich hatte ihn, auf der Bank vor meinem Haus sitzend, täglich im Blick, sein Auftauchen gehörte einfach zu dieser frühen Stunde wie das ferne, nicht allzu laute Dröhnen vom Autobahnzubringer oder das scheppernde Läuten der Kirchenglocken. Und ich mag es, wenn die Dinge bleiben, wie sie sind.

Die Glocken quengelten, als wollten sie Rimböck aus dem Haus locken, und dann, als wäre es ein Nachklang, ein fernes Dröhnen, ein Surren fast nur, als schwebe eine Mücke dicht am Ohr. Jetzt!, dachte ich. Aber nichts, die Tür im Haus gegenüber blieb geschlossen. Merkwürdig, dachte ich, und stellte mir dennoch vor, wie Rimböck seine Villa verließ, diesen kubischen, weiß getünchten Kasten, dem jede südliche Heiterkeit fehlte, ich sah ihn vor mir, wie er wie jeden Tag aus der Tür kam und unter dem Baldachin stand, der von Säulen mit ionisch anmutenden Kapitellen getragen wurde, wie er mit der linken Hand dann den Messingknauf der Tür umfasste und diese fest ins Schloss zog, um gleich darauf mit der rechten am Bund zu fummeln und den richtigen Schlüssel, das freilich ahnte ich mehr, als ich es sah, ins Schloss zu führen, wobei er sich, mir seinen Hintern zuwendend, so ein Arsch, dachte ich, tief bückte, sodass sein Kopf fast auf der Höhe des Schlüssellochs war, als müsse er diesen täglichen Handgriff stets aufs Neue erlernen. Er schloss also ab, drückte zur Kontrolle noch einmal gegen den Knauf, rüttelte daran, ich kannte das ja, hatte es oft, vielleicht zu oft gesehen und sah es jetzt in Gedanken noch deutlicher, dann ließ er den Schlüsselbund, bevor er ihn wieder in die Hosentasche steckte, rasselnd um seinen ausgestreckten Zeigefinger kreisen, nicht ohne sich dabei mit einem Blick auf die Armbanduhr der Zeit zu versichern. Es musste kurz nach acht Uhr sein. Es war kurz nach acht Uhr, nur Rimböck fehlte. Rimböck war nicht zu sehen.

Während das Abschließen der Haustür offenbar ­einige Konzentration und Anstrengung erforderte, lag in dem anschließenden Kreisen des Schlüsselbunds jedes Mal eine solch beschwingte Unbekümmertheit, dass mich der Gegensatz täglich aufs Neue verwirrte, während sich in der nun folgenden Marotte­ Rimböcks die ganze Armseligkeit seiner Existenz offenbarte. Nachdem er den sogenannten Vorgarten, der eher ein Steinbruch oder Betongärtchen war, eilig durchquert hatte, stand er am Grundstückstor, wo er neben den Betonkübeln, in denen giftgrüne Plastikkoniferen stramm standen, wie nach einem Schreckmoment noch einmal kurz innehielt, um sich zu vergewissern, ob er seine Brieftasche tatsächlich dabei hatte, indem er, panisch fast, dahin tastete, wo er sie vermutete, gewöhnlich an die Brusttasche seines Sakkos, manchmal auch, wenn es sehr heiß war und er nur das obligate pastellfarbene­ Hemd trug, an die Gesäßtasche seiner Hose, und fand die Brieftasche dann jedes Mal.

Das Tor erinnerte ebenso wie der sich zwischen mit Schotter gefüllten Stahlgittersäulen erhebende Zaun an einen Hochsicherheitstrakt, so aufreizend, dass ich gern dagegen geschlagen und das Gatter zum Erzittern gebracht hätte. Ich fragte mich manchmal, ob Rimböck mit seinem Eigenheim dem Bauhaus oder nur seinem Bankkonto huldigte, er hätte wahrscheinlich am liebsten das Preisschild gut sichtbar an die Wand geklebt. Aber vielleicht waren die Säulen auch nur ein Ausrutscher, der Tribut an eine sentimentale Erinnerung oder eine Machtdemonstration des Bauherrn gegenüber den Allüren des Arch