Auf das Leben
Yair stand auf der Terrasse, die weiße Stadt in seinem Rücken. Er dachte: Wie vor der Erfindung der Sterne. Fast schwarz war der Himmel, und Tel Aviv badete in einem Meer aus Lichtern.
Er lehnte sich ans Geländer, ein Bein durchgestreckt, das andere angewinkelt, Standbein und Spielbein, eine Statue in karierten Boxershorts, fast unberührt von der Sonne, die tagsüber brannte. In der einen Hand hielt er ein Glas, in der anderen einen Joint. Er trank, setzte ab, nahm einen Zug – verschluckte sich am Rauch, hustete, stieß, ans Universum gerichtet, einen Fluch aus. Seine Schwester Avital machte sich manchmal über ihn lustig: „Du bist der einzige Israeli, der nicht anständig kiffen kann.“ Fürs Kiffen hatte Yair in der Tat kein Talent. Sein Kopf lief rot an, und ihm wurde unwohl zumute. Trotzdem. Da musste er durch. Alkohol allein brachte es nicht. Er nahm noch einen Zug und noch einen. Er sagte sich: Ich warte bis drei. Wenn er dann nicht da ist, schneide ich mir die Pulsadern auf.
Musik schwappte zu ihm herüber. Mizrahi Pop, Charts, Lounge. Frau Globerman hörte seit anderthalb Stunden eine Arie, wieder und wieder dieselbe. Auf die Entfernung eines Stockwerkes hörte sich die Sopranistin ganz solide an. Ihr Schmerz schien real.
Neulich im Hausflur hatte Frau Globerman ihm genau erklärt, für wen sie da schwärmte. Seine betagte Nachbarin, eine Repatriantin aus Polen, vermutete in ihm eine verwandte Seele, schließlich lebte auch er, wie sie es ausdrückte, in der Knechtschaft der Töne. Yair hatte sich ernsthaft bemüht, ihr zuzuhören. Sogar mit einer Nachfrage hatte er sich am Gespräch beteiligt. Er hatte genickt, genickt, genickt – und doch alles vergessen, kaum dass sich die Türen hinter ihnen geschlossen hatten: Name und Titel, üppige Ausführungen, die von der Musik selbst wegführten, theoretische Exkurse, die außergewöhnliche Karriere, die als Beweis für das seltene Talent der Sängerin herangezogen wurde.
In den Pausen zwischen den Tönen, immer dann, wenn die Sopranistin Luft holte, drangen Gesprächsfetzen zu ihm herauf, von anderen Balkonen oder von der Straße. Die Menschen hatten ihre Wohnungen verlassen, sobald es dunkel geworden war. Es trieb sie in die Nacht, die zwar keine Abkühlung versprach, aber mit Verheißungen anderer Art aufwartete. Yair hätte viel lieber dem Meer zugehört: Wenn alle einmal auf Pause drückten und einen Moment lang den Mund hielten, könnten sie das Rauschen der Wellen hören, ins Körperlose ausweichen, träumen, vergessen; aber nein, niemand hier war bereit, darauf zu verzichten, sich mitzuteilen. Immerzu musste geredet werden. Jeder wollte auf dem Laufenden halten. Über sich und seine Projekte. Jeder hatte auf einmal irgendwelche Projekte am Start. Jeder hatte die krassesten Erfahrungen gemacht. Die konnten natürlich nicht in gemäßigtem Ton mitgeteilt werden. Die mussten herausgeschrien werden. Leider war immerzu jemand mit dem, was ein anderer sagte, unzufrieden. Fühlte sich beleidigt, angegangen, gekränkt. Wie, fragte sich Yair, sollten sich die Menschen vertragen, wenn sie sich nicht mal auf eine Musik einigen konnten?
Im Schrank über der Küchenzeile bediente sich Yair an den Spirituosen, die Omer in übertriebenen Mengen heranschaffte. Aus den Flaschen, die weiter vorn standen, mischte er sich etwas, von dem er nicht sicher war, ob es schmecken würde. Er dachte: Hauptsache, es knallt.
Omer sollte ihn leidend vorfinden. Sollte sehen, wie er ihn zugrunde gerichtet hatte. Nie wieder wollte er gute Laune vorspielen. Lieber losheulen, wenn ihn sein Freund mal wied