: Jens Wonneberger
: Himmelreich Roman
: Müry Salzmann
: 9783990143025
: 1
: CHF 13.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Das Buch Robert, ein Mann um die dreißig, kehrt ins Dorf seiner Kindheit zurück, 'irgendwo am Schienenstrang zwischen Neustadt und Himmelreich'. Die Mutter ist schon eine Weile tot, nun begraben sie Rudi, den Vater; zeitlebens sind sie einander fremd geblieben. Das Beredtste, was er seinem Sohn hinterließ, ist die Bastelarbeit auf dem Dachboden: das Dorf in Miniaturformat, mit der Eisenbahn, die in der Wirklichkeit hier nicht mehr hält. Mit dieser spielerischen Erfindung gelingt es Jens Wonneberger, die Beziehung zwischen ­Vater und Sohn, über der so viel Ungesagtes, Ungelöstes liegt, zu poetisieren. Mit Lakonie bringt er dieses Museum der verlorenen Zeit sprachlich zum Klingen. Auch das Dorf jenseits der Familie bekommt seine Physiognomie. In meisterhaften Miniaturen haben die Unangepassten ihren Auftritt: Schlendermax, der Dorftrottel, Birnstein, der Chrysanthemen- und Gurkenzüchter, oder der Kutscher Kretschel. In 'Himmelreich' errettet Jens Wonneberger sie alle in eine deutsche Prosa, die zum Besten ­gehört, was derzeit geschrieben wird.'

'Der Autor Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien, darunter 2010 den Sächsischen Literaturpreis, 2017 ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane Goetheallee (2014), Himmelreich (2015), Sprich oder stirb (2017), Mission Pflaumenbaum (2019) - der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war - sowie Flug der Flamingos (2021).'

Willy Kretschel war der Besitzer des letzten Pferde­gespannes im Dorf und der Kopf war sein markantestes Merkmal. Die äußere Form seines Kopfes, muss man einschränken, denn was den Kopf als Ganzes betrifft, war Kretschel ein eher durchschnittlich veranlagter Mensch. Kretschel also hatte einen runden Kopf, man sagt ja manchmal von einem Menschen, er habe einen runden Kopf, Kretschels Kopf aber war so rund, dass man ihn, sich der Tautologie durchaus bewusst, nicht anders als kugelrund nennen kann. Ein Kopf zudem, der, abgesehen von zwei Haaren, die sich auf einer Warze unterhalb des linken Auges störrisch zeigten, vollkommen kahl war, was den Eindruck verstärkte, der Kopf könne jeden Augenblick von den Schultern rollen, und auch Kretschel selbst schien eben dies zu befürchten, weshalb er die Schultern immer ein wenig nach oben zog, was seinem gesamten Aussehen etwas Zusammengestauchtes gab. Gekrönt wurde der Kopf von einem kleinen Hut aus ursprünglich braunem, im Laufe der Jahre speckig gewordenem Leder, den Kretschel fast nie absetzte, es sei denn, dass er ihn, auf dem Bock seines Leiterwagens sitzend, die Peitsche im Stiefelschaft, gelegentlich für einen Gruß lüftete, wobei für einen kleinen Moment ein roter Streifen sichtbar wurde, der den Kopf wie ein Fassreifen umspannte. So fuhr er über die Dorfstraße, rief hü oder hott oder gottverfluchte Scheiße, wenn die Räder in der engen Kurve­ hinter der Milchrampe blockierten und die Pferde aufgeregt auf der Stelle traten, während Kretschels Kopf sich vor Wut und Anstrengung dunkelrot färbte und sich bedrohlich neigte. Oder er stand, nicht minder fluchend, weit zurückgelehnt, in einer Hand die Zügel zerrend, mit der anderen an der Bremskurbel drehend, während die Pferde, Schaum um die Mäuler und mit gebleckten Zähnen, sich mit kleinen, trippelnden Schritten gegen den Abhang stemmten. Prrr!! zischte es dann durch die zusammengepressten Zähne aus Kretschels Kopf wie Dampf aus einem Kessel.

Unter anderen Umständen würde es schon genügen, sich Kretschels als eines Menschen mit einem so merkwürdigen Kopf zu erinnern, aber, wie gesagt, Willy Kretschel war auch der Besitzer des letzten Pferdegespannes im Dorf und genoss als solcher ein beträchtliches Maß an Popularität. Der aufgeregte Ruf „Kretschel kommt!“ versammelte dann auch alle verfügbaren Kinder und Großmütter hinter Gardinen und Gartenzäunen und konnte zuweilen als Schlachtruf gelten, dann nämlich, wenn Kretschels Pferde, zwei mit ihrem Besitzer in die Jahre gekommene Haflingerwallache mit mächtigen Hinterteilen, auf der Straße äpfelten. Dann galt es sich schnellstmöglich mit Eimer, Schaufel und Ascheschieber zu bewaffnen, um als Erster den Hinterlassenschaften des letzten Pferdegespanns habhaft zu werden. Denn nichts, das galt als abgemacht, war für das Wachstum von Gartengemüse und Zierblumen besser, als eine aus Pferdeäpfeln gebraute Düngerbrühe. In einer eigens bereitgestellten Zinkwanne reifte der braune Sud und bildete kleine Schaumkronen, auf denen die grünen Leiber der Fliegen schillerten wie Smaragde. Großmutter schrieb übrigens Hühner­kacke eine ähnliche Wirkung zu, allerdings sollte sich diese an menschlichem Kopfhaar entfalten, was auszuprobieren Kretschel jedoch ablehnte. Vielleicht galt er auch deshalb als stur, zumindest in den Augen von RobertsGroßmutter, die in Sachen Sturheit aber auch nicht gerade ein unbeschriebenes Blatt war. War es also Sturheit, dass Kretschel immer wieder die Geschichte von dem Pferdegespann erzählte, das vor langer Zeit samt seinem Kutscher in ­einem Moorloch am Rand des Dorfes versunken sein sollte?­ Immer wieder erzählte er scheinbar beiläufig und dennoch eindringlich diese Geschichte, bis die Kinder glaubten, es sei das unausweichliche Schicksal aller Pferdegespanne, eines