: Jens Wonneberger
: Goetheallee Roman
: Müry Salzmann
: 9783990143032
: 1
: CHF 13.50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 172
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Das Buch Ach Goethe! Auch er wäre heute nur ein gewöhnlicher Tourist und sein Arkadien vielleicht ein All-inclusive-Paradies. Von der Goetheallee einer Vorstadt führt Jens Wonnebergers neuer Roman auf eine italienische Reise, die nur noch wie ein Echo dessen wirkt, was Sehnsüchte anno Goethe einmal waren. Der Held des Buchs ist Schriftsteller in der Mitte seines Lebens und in einer veritablen Schreib- und Ehekrise. Wirklich schlimm wäre die Katastrophe allerdings erst, wenn Wonnebergers tragischer Dichter nicht auf so virtuose Weise von seinem Lebenselend erzählen würde. Da ist Frau Wohlgemuth, die beleibte Buchhändlerin mit dem hennaroten Haar, deren Laden von vollkommener Ignoranz gegenüber seinem Werk kündet. Da ist der Hausmeitster Wehovsky, der im dringenden Verdacht steht, mit der Frau des Schriftstellers mehr als nur ein Dienstleistungsverhältnis zu haben. Und da ist Frau Hartmann mit dem Nazi-Großvater. Mit großer satirischer und zugleich zärtlicher Genauigkeit entwirft Jens Wonneberger ein Anti-Idyll der Krise. Er zeichnet einen ganzen Kosmos, bis die Figuren in all ihrer Menschlichkeit erkennbar sind und bis aus dem Tief ein neuer Anfang wird. Nach Wonnebergers vielfach gelobten Romanen 'Gegenüber brennt noch Licht' und 'Sture Hunde' ist auch 'Goetheallee' ganz auf der Höhe des Erzählens.'

'Der Autor Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien, darunter 2010 den Sächsischen Literaturpreis, 2017 ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane Goetheallee (2014), Himmelreich (2015), Sprich oder stirb (2017), Mission Pflaumenbaum (2019) - der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war - sowie Flug der Flamingos (2021).'

1

Frau Hartmann trägt an diesem Morgen eine Perücke, und das macht uns beide verlegen. Unausgeschlafen und fröstelnd stehe ich im kleinen Zeitungs­laden und starre die so merkwürdig fabrikneu behaarte Dame an. Zugegeben, der Anblick ihres kahlen, nur von einem dünnen weißen Flaum umwölkten Schädels war auch bisher, sagen wir: gewöhnungsbedürftig, zumal bei einer Frau. Ihr Resthaar glich dem Kopfputz einer jungen Eule kurz vor dem Flüggewerden, und obwohl ich mich immer gefragt habe, warum sie sich keine Perücke zulegt, bin ich nun doch verwirrt. Gewöhnlich wechselten wir ein paar Worte, schimpften über das Wetter, die zuverlässig falschen Lottozahlen oder die Bauarbeiter, die mal wieder den Fußweg aufgerissen haben, und ich war jedes Mal erleichtert, dass sie mich nicht mit ihrer Krankengeschichte konfrontierte. Denn das war sicher, ihr Aussehen musste von einer Krankheit herrühren. Diesmal jedoch schweige ich, was ein Fehler ist, denn gleich befürchte ich, sie könne mich in meiner Sprachlosigkeit überrumpeln und mich fragen, wie ihr die neue Perücke denn stehe.

Sie nestelt an ihrer Kittelschürze herum, deren Farbe­ dünnem Milchkaffee gleicht. Die Schürze scheint an ihrem dürren Körper festgewachsen, ein Relikt aus der Zeit, als es hier noch ein Ladenglöckchen gab. Eine Zeit, die im Laden konserviert ist und mit Frau Hartmann untergehen würde. Ihr Jahrgang ist schwer zu schätzen, besonders heute, aber sicher wird sie das Rentenalter bald erreicht haben. Frau Hartmann schiebt mir mit leichtem Zittern wie jeden Morgen meine Zeitung und eine Packung Zigaretten über den Tresen, doch auch sie sagt nichts, schielt nur nach ihrem künstlichen Pony, den sie sich etwas zu weit in die Stirn gezogen hat, vielleicht, um sich ihrer neuen Perücke zu vergewissern. Der Anblick der Haarspitzen scheint sie zu beruhigen, obwohl sie dann doch ein wenig an ihnen herumzupft, so wie Sabine, die immer sofort im Bad verschwindet, wenn sie vom Friseur kommt, um dessen Arbeit vor dem Spiegel mit ein paar schnellen Zupfern zu korrigieren. Ich weiß, dass Sabine danach ein paar anerkennende Worte erwartet, obwohl sie jedem Kompliment von mir misstraut. Also suche ich auch jetzt nach etwas Unverfänglichem, als zum Glück Wehovsky das Geschäft betritt und ich tatsächlich das Ladenglöckchen zu hören glaube. Auch der fette rotfellige Kater, der sich die ganze Zeit hinter dem Tresen schlafend stellte, muss es gehört haben und schlägt nun interessiert die Augen auf. Wehovsky­ ist unser Hausmeister, was über der sich deutlich abzeichnenden Wölbung seines Bauches auf dem Latz der giftgrünen Arbeitshose auch zu lesen ist. Diesen Schriftzug trägt er vor sich her, als mache allein der ihn zu einer Autorität. Sein Kraushaar, sicher das Ergebnis einer Dauerwelle, erinnert an einen in die Jahre gekommenen Schlagersänger, der sich gegen sein Alter wehrt – oder trägt auch er eine Perücke? –, die schwarz überbuschten Augen geben ihm zugleich etwas Dämonisches. Und er weiß, was er seinem Amt schuldig ist, seiner Aufmerksamkeit entgeht eigentlich nichts, doch an Frau Hartmann scheint er keine Veränderung zu bemerken, er schwenkt stattdessen mit spitzen Fingern triumphierend einen Lottoschein und schiebt ihn schließlich mit der Überlegenheit eines Mannes, der gerade das große Los gezogen hat, über die Laden­tafel, deren Glas seit Jahren einen Sprung hat. Während Frau Hartmann den Schein mit notarieller Gewissenhaftigkeit überprüft, tritt Wehovsky voller Vorfreude auf der Stelle, fast tänzelnd riskiert er dabei ein Auge auf den Ständer mit den eingeschweißten­ Männer­magazinen.

Ich überlege, wie ich Sabine die Perücke würde nachher beschreiben können. Die Farbe erinnert an Schiefergrau, sie hat etwas Verwittertes und strahlt Gewöhnlichkeit aus. Oder ist das pfefferfarben? Das Haar ist leicht struppig, fast widerborstig, gleichzeitig aber von einer Ordnung, die ihre Künstlichkeit nicht verbergen kann. Die Perücke ähnelt dem Fell eines Murmeltiers, denke ich, was meine Verlegenheit noch steigert.

We