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Frau Hartmann trägt an diesem Morgen eine Perücke, und das macht uns beide verlegen. Unausgeschlafen und fröstelnd stehe ich im kleinen Zeitungsladen und starre die so merkwürdig fabrikneu behaarte Dame an. Zugegeben, der Anblick ihres kahlen, nur von einem dünnen weißen Flaum umwölkten Schädels war auch bisher, sagen wir: gewöhnungsbedürftig, zumal bei einer Frau. Ihr Resthaar glich dem Kopfputz einer jungen Eule kurz vor dem Flüggewerden, und obwohl ich mich immer gefragt habe, warum sie sich keine Perücke zulegt, bin ich nun doch verwirrt. Gewöhnlich wechselten wir ein paar Worte, schimpften über das Wetter, die zuverlässig falschen Lottozahlen oder die Bauarbeiter, die mal wieder den Fußweg aufgerissen haben, und ich war jedes Mal erleichtert, dass sie mich nicht mit ihrer Krankengeschichte konfrontierte. Denn das war sicher, ihr Aussehen musste von einer Krankheit herrühren. Diesmal jedoch schweige ich, was ein Fehler ist, denn gleich befürchte ich, sie könne mich in meiner Sprachlosigkeit überrumpeln und mich fragen, wie ihr die neue Perücke denn stehe.
Sie nestelt an ihrer Kittelschürze herum, deren Farbe dünnem Milchkaffee gleicht. Die Schürze scheint an ihrem dürren Körper festgewachsen, ein Relikt aus der Zeit, als es hier noch ein Ladenglöckchen gab. Eine Zeit, die im Laden konserviert ist und mit Frau Hartmann untergehen würde. Ihr Jahrgang ist schwer zu schätzen, besonders heute, aber sicher wird sie das Rentenalter bald erreicht haben. Frau Hartmann schiebt mir mit leichtem Zittern wie jeden Morgen meine Zeitung und eine Packung Zigaretten über den Tresen, doch auch sie sagt nichts, schielt nur nach ihrem künstlichen Pony, den sie sich etwas zu weit in die Stirn gezogen hat, vielleicht, um sich ihrer neuen Perücke zu vergewissern. Der Anblick der Haarspitzen scheint sie zu beruhigen, obwohl sie dann doch ein wenig an ihnen herumzupft, so wie Sabine, die immer sofort im Bad verschwindet, wenn sie vom Friseur kommt, um dessen Arbeit vor dem Spiegel mit ein paar schnellen Zupfern zu korrigieren. Ich weiß, dass Sabine danach ein paar anerkennende Worte erwartet, obwohl sie jedem Kompliment von mir misstraut. Also suche ich auch jetzt nach etwas Unverfänglichem, als zum Glück Wehovsky das Geschäft betritt und ich tatsächlich das Ladenglöckchen zu hören glaube. Auch der fette rotfellige Kater, der sich die ganze Zeit hinter dem Tresen schlafend stellte, muss es gehört haben und schlägt nun interessiert die Augen auf. Wehovsky ist unser Hausmeister, was über der sich deutlich abzeichnenden Wölbung seines Bauches auf dem Latz der giftgrünen Arbeitshose auch zu lesen ist. Diesen Schriftzug trägt er vor sich her, als mache allein der ihn zu einer Autorität. Sein Kraushaar, sicher das Ergebnis einer Dauerwelle, erinnert an einen in die Jahre gekommenen Schlagersänger, der sich gegen sein Alter wehrt – oder trägt auch er eine Perücke? –, die schwarz überbuschten Augen geben ihm zugleich etwas Dämonisches. Und er weiß, was er seinem Amt schuldig ist, seiner Aufmerksamkeit entgeht eigentlich nichts, doch an Frau Hartmann scheint er keine Veränderung zu bemerken, er schwenkt stattdessen mit spitzen Fingern triumphierend einen Lottoschein und schiebt ihn schließlich mit der Überlegenheit eines Mannes, der gerade das große Los gezogen hat, über die Ladentafel, deren Glas seit Jahren einen Sprung hat. Während Frau Hartmann den Schein mit notarieller Gewissenhaftigkeit überprüft, tritt Wehovsky voller Vorfreude auf der Stelle, fast tänzelnd riskiert er dabei ein Auge auf den Ständer mit den eingeschweißten Männermagazinen.
Ich überlege, wie ich Sabine die Perücke würde nachher beschreiben können. Die Farbe erinnert an Schiefergrau, sie hat etwas Verwittertes und strahlt Gewöhnlichkeit aus. Oder ist das pfefferfarben? Das Haar ist leicht struppig, fast widerborstig, gleichzeitig aber von einer Ordnung, die ihre Künstlichkeit nicht verbergen kann. Die Perücke ähnelt dem Fell eines Murmeltiers, denke ich, was meine Verlegenheit noch steigert.
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