: Jens Wonneberger
: Weltliteratur kleine prosa
: Müry Salzmann
: 9783990142981
: 1
: CHF 15.20
:
: Erzählende Literatur
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
'Das Buch Nein, so vermessen ist Jens Wonneberger nicht, sein eigenes Schreiben als 'Weltliteratur' zu bezeichnen - wiewohl er mit Anfang 60 auf ein stattliches ?uvre blickt, allein zwölf Romane sind in den letzten gut 20 Jahren entstanden. Und auf ein literarisch herausragendes: Seine Prosa gehört wohl zum Besten, was derzeit im deutschsprachigen Raum ge­schrieben wird. Als scharfer Beobachter, der mit wenigen Strichen Hülle und Kern eines Menschen zeichnen kann, erweist er sich auch in seinem neuen Werk. Es versammelt kürzere Texte, zeitlich und thematisch grob geordnet, entlang der Lebensstationen des Autors. Vom Selbstmord des Vaters erfahren wir gleich in der ersten Erzählung. Eine Ahnung davon, wie existenzielle Krisen entstehen können, liefert eine andere. Dazwischen vergnügliche Kinderspiele in einem Dorf unweit Dresdens in den 1960er­ Jahren, aber auch der Hausbesuch des Frisörs, den alle fürchten, weil er sein Handwerk beim Militär erlernt hat. Von meisterhafter Präzision und Komik sind die Schilderungen der Arbeits­tage in Baukombinat und Buchantiquariat. In letzterem verdingt sich der Ich­-Erzähler als Reinigungskraft und hilft einem Mann aus der Patsche, der verzweifelt auf der Suche nach einem Roman aus der Ming­-Zeit ist - für die Antiquarin 'Schweinekram', für den Kunden 'Weltliteratur'.'

'Der Autor Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien, darunter 2010 den Sächsischen Literaturpreis, 2017 ein Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 das London-Stipendium des Deutschen Literaturfonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane Goetheallee (2014), Himmelreich (2015), Sprich oder stirb (2017), Mission Pflaumenbaum (2019) - der 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert war - sowie Flug der Flamingos (2021).'

verwelkte sonnen

Unser Vater hatte uns vor Herrn Schmidtbauer gewarnt. Keine Ahnung, wen man uns da ins Nest ­gesetzt hat, hatte er gesagt. Wenn Vater sagte, er habe keine Ahnung, meinte er natürlich, dass wir keine Ahnung hätten, denn er wusste selbstverständlich längst, was dieser Schmidtbauer für einer war, aber er sagte es uns nicht. Nur dass Herr Schmidtbauer unserer Mutter schöne Augen mache, sagte er, aber ich fand, dass Herrn Schmidtbauers Augen immer gleich aussahen und auch nicht besonders schön. Meine Schwester, die unserem Vater immer nach dem Mund redete und, seit sie in die Schule ging, gern mit ihrem Wissen prahlte, vermutete, vielleicht wegen des Nestes, Herr Schmidtbauer müsse ein Kuckuck sein. Der Kuckuck, säuselte sie altklug, lege seine Eier in fremde Nester, und wenn sein Junges dann geschlüpft sei, schmeiße er die anderen einfach raus. Soweit werden wir es nicht kommen lassen, sagte mein Vater und strich ihr zärtlich übers Haar. Ich zeigte ihr einen Vogel, und meine Schwester streckte mir die Zunge raus.

Das Nest, in das sich Schmidtbauer gesetzt hatte, war in Wirklichkeit eine Baugrube, die am Ende unserer Straße lag. Irgendwann hatte dort jemand begonnen, ein Haus zu bauen, war dann aber, wie unser Vater sagte, beim Bauen „abgestorben“ und hatte nur die Grube­ zurückgelassen. Unser Nachbar, der Maurer war und sich auskannte, behauptete, dieser Jemand habe zwei linke Hände gehabt. Er selbst, sagte er über den Gartenzaun, hätte so ein Häuschen mit links hochgezogen und zwar ruck, zuck. Ich fragte Vater, warum unser Nachbar ein Haus mit einer linken Hand bauen könne, aber dieser Jemand mit zwei linken Händen dabei abgestorben sei, aber Vater sagte, das sage man nur so, dieser Schmidtbauer jedenfalls habe sich ins gemachte Nest gesetzt. Meine Schwester wollte wahrscheinlich wieder etwas von ihrem Kuckuck sagen, sie hatte schon tief Luft geholt, aber dann sagte sie doch nichts.

Unsere Mutter hatte uns vor Herrn Schmidtbauer nicht gewarnt. Schmidtbauer war ihr neuer Chef, da konnte sie nicht schlecht von ihm reden. Ach, der Schmidtbauer, sagte sie nur, der ist auch nicht anders als alle anderen. Wie denn alle anderen seien, fragte meine Schwester, weil sie das in der Schule noch nicht gelernt hatte. Das, sagte unsere Mutter, wirst du auch noch erfahren. Wann denn?, fragte meine Schwester, die sich nie mit einer Antwort zufriedengab. Na jedenfalls früh genug, sagte unsere Mutter und zog sich mit spitzen Fingern die Lockenwickler vom Kopf.

Um zu sehen, wie der Schmidtbauer nun wirklich war, gingen wir manchmal zur Baugrube, neben der jetzt fast jeden Tag etwas abgeladen wurde, Steine, Balken und Bretter, aus denen Schmidtbauer ein Haus bauen wollte. Das Haus bauten dann aber andere Männer, Herr Schmidtbauer kam nur ab und an vorbei und fuchtelte mit seinen linken Händen he­rum. So einer, sagte mein Vater, macht sich die Hände natürlich nicht schmutzig, jedenfalls nicht auf dem Bau.

Bevor Herr Schmidtbauer mit dem Bauen begann, hatten uns die Eltern verboten, in der damals noch verlassenen Baugrube zu spielen. Wir würden uns noch mal den Hals brechen, hatten sie gesagt, aber natürlich waren wir trotzdem oft hingegangen, waren in die Baugrube gestiegen und hatten uns den Hals nicht gebrochen. Ich kannte die Grube, die jetzt wieder eine Baustelle war, also ganz genau, im letzten Frühjahr war ich sogar einmal mit unserer Mutter dort gewesen, die am Rande der verlassenen Baugrube die Blüten kleiner gelber Blumen gepflückt hatte. Die Pflanzen hatten noch keine Blätter, und ihre Blüten sahen wie kleine Sonnen aus. Huflattich, hatte unsere Mutter erklärt, und die Blüten in ihr Taschentuch gewickelt. Die Blätter, hatte sie gesagt, holen wir uns später. Zu Hause hatte sie die Huflattichblüten getrocknet und im Winter, als bei uns die Sonne nur selten schien und wir mal wieder Husten hatten, einen Tee daraus gekocht.

Um die ehemalige Baugrube stand jetzt ein Zaun, durch den man aber alles sehen kon