Prolog
Hongkong, 2001
Jede Nacht stehe ich hier und warte, bis die Sonne über den Hügeln von Hongkong aufgeht, verschwommen im Dunst der Stadt. Ich beuge mich vor und presse mein Gesicht an das kühle Glas des Fensters, während ich die Yachten beobachte, die weit unter mir in der Deep Water Bay vor Anker liegen. Eine von ihnen löst sich aus dem Kreis und nimmt langsam Kurs auf den Hafen von Hongkong. Ein nächtliches Schauspiel, das ich seit Jahren kenne. Ich starre auf das dunkle Meer hinunter, auf das kurze Aufblitzen der Lichter an Bord der Yachten. Was fasziniert mich daran so sehr? Eigentlich nichts. Ich warte nur auf den Morgen, wehre mich gegen den Schlaf, der mir quälende Alpträume bringt, ich will nicht an die Vergangenheit denken, und doch drehen sich meine Gedanken darum, Tag für Tag, Nacht für Nacht.
Viele Jahre dachte ich an sie und das, was ich ihr angetan habe. Doch dann drängte sich stets das Bild des Mannes in meine Gedanken, den ich so sehr geliebt hatte, und ich fühle nur noch den eigenen Schmerz.
Diesen Mann zu lieben bedeutete Verzweiflung, Schwäche, auch Hass. Es dauerte lange, bis ich das Scheitern zugeben konnte und ihn gehen ließ, obwohl wir geglaubt hatten, unlösbar miteinander verbunden zu sein. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich ihn immer noch vor mir, sein ungläubiges Lächeln, das Aufblitzen eines kurzen Bedauerns auf seinem Gesicht und seine Erleichterung in dem Moment, als er ging. Er konnte nicht schnell genug von mir wegkommen.
Nicht daran denken, nicht jetzt, nicht in diesem Moment, in dem ich die Grausamkeit des Alters erkenne, wie so oft, wenn ich nachts hier stehe. Ich bin in diesem Haus nicht glücklich geworden. Vielleicht, weil es nach Norden geht und von Norden die bösen Geister kommen, also ein schlechtes Feng-Shui. Ich lebe schon zu lange in China, um nicht längst der Philosophie dieses Landes verfallen zu sein.
Das ist sicher der Grund, warum ich täglich hinunter zum Tempel von Kuan-yin gehe, der Göttin des Mitleides und des Erbarmens, um zu ihr zu beten.
»Kuan-yin«, sage ich jetzt beschwörend in die stille Dunkelheit hinein, »Kuan-yin, du hast mir nicht geholfen. Kuan-yin, hast du mich nicht verstehen können? Alles, was ich vor vielen Jahren tat, tat ich aus Liebe.«
Ich habe gelernt, Abstand zu meinem Leben zu gewinnen, versucht, die Vergangenheit zu vergessen, doch die Gefühle sind geblieben, und sie haben nichts von ihrer Intensität verloren.
Warum sind die Nächte so lang und quälend? Das liegt sicher am Alter, an der Angst vor dem Tod. Er wäre eine Wohltat, und doch möchte ich nicht sterben, obwohl ich lange genug gelebt habe.
Ich kann nicht mehr atmen, ich ringe nach Luft, wo ist Chang? Unruhig drehe ich mich um. Soll ich sie wecken? Den einzigen Menschen, der mich liebt, der mich versteht und dem ich mich anvertraut habe. Ich brauche sie.
Wir lebten noch keine drei Monate hier oben in den Hügeln über Hongkong, als sie zu mir kam. Ein Kind noch, verängstigt, schmächtig, gerade zwölf Jahre alt geworden. Sie stammt aus dem Hinterland und wurde damals von ihrem Vater an einen vorbeireisenden Hän