: Jens Wonneberger
: Pension Seeparadies Roman
: Müry Salzmann
: 9783990142936
: 1
: CHF 16.10
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 180
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir sehen ihn, den Lehrer Winkler, morgens beim Strandspaziergang. Allein. Es gab Streit zwischen ihm und seiner Frau, aus geringfügigem Anlass. Auch die Pension Seeparadies macht ihrem Namen wenig Ehre. Streit hatten sie schon öfter, aber so lange geschwiegen danach noch nie. Ob sie schon beim Frühstück sitzt und wie immer ihr Spiegelei... Obsessiv denkt Winkler sich in den Kosmos seiner Frau hinein, meint zu sehen, wo sie jetzt ist, was sie tut oder denkt. Seltsam nah ist er ihr seit dem Abbruch des Gesprächs. Da fällt ihm Bergthaler wieder ein, der langjährige Freund: Funkstille auch zwischen ihnen. Irgendwann kippten ihre Weltsichten auseinander, konnten sie einander scheinbar nicht mehr hören. Und dann erweist sich auch noch ein Pensionsgast als Wiedergänger des ehemaligen Freundes... An Wirklichkeitssinn nicht zu überbieten: Jens Wonneberger sieht die verletzte Natur des Urlaubslandes als Seelenspiegel seiner Figuren, erzählt ebenso subtil wie realistisch, sodass sich im Alltäglichen Allgemeingültiges zeigt. Wonneberger braucht weder Zuspitzung noch die geringste Zutat, um das Leben, wie es ist, sichtbar zu machen.

Jens Wonneberger wurde 1960 geboren und lebt in Dresden. Seit 1992 arbeitet er als freiberuflicher Autor und Redakteur. Er erhielt diverse Stipendien und wurde mehrfach ausgezeichnet: 2010 mit dem Sächsischen Literaturpreis, 2017 mit einem Werkstipendium des Deutschen Literaturfonds und 2018 mit dem London-Stipendium desselben Fonds. Wonneberger hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Sachbücher veröffentlicht. Beim Müry Salzmann Verlag erschienen seine Romane 'Goetheallee' (2014), 'Himmelreich' (2015), 'Sprich oder stirb' (2017), 'Mission Pflaumenbaum' (2019, Longlist Deutscher Buchpreis 2020), 'Flug der Flamingos' (2021) sowie der Band 'Weltliteratur. Kleine Prosa' (2023).

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Winkler hatte schlecht geschlafen in dieser Nacht, aber müde war er dennoch nicht. Gehen, dachte er nun, du musst jetzt gehen, egal wohin, einfach nur gehen. Und ging also mit entschlossenen Schritten bis zur Strandpromenade, deren einst mondäner Glanz freilich nur noch auf den Reproduktionen der Ansichtskarten mit Bildern aus der Kaiserzeit matt schimmerte, in Sepia oder nachträglich koloriert, wenn die Touristen vor den Souvenirbaracken zwischen Sonnenbrillentürmen und vielgeschossigen Stellagen voller mit Vornamen beschrifteter Kaffeetassen im Vorbeigehen die Ständer drehten. Die Strandpromenade, die im Sommer einem belebten Jahrmarkt glich, jetzt in der Nachsaison aber, erst recht so früh am Morgen, wie ausgestorben war zwischen den angeketteten Stühlen, zusammengeklappten Sonnenschirmen und manchem Unförmigen, das sich noch gut verschnürt unter dunkelgrünen Wetterschutzplanen verbarg. Über die Estrade des Konzertplatzes trieben Papierreste, irgendwo klirrten leere Flaschen. An der Spitze einer glänzenden Metallstele zeigten vier Uhren die Zeit in alle Himmelsrichtungen: kurz nach sieben. Es war Mitte Oktober und vor dem kleinen Supermarkt, in dem, das hatte er gestern bemerkt, im Kassenbereich schon die ersten Pfefferkuchen und Schokoladenweihnachtsmänner Spalier standen, hatte jemand einen Wischeimer ausgekippt, in der Pfütze schwamm zwischen den Schaumresten noch das letzte Licht der Straßenlaternen. Ein paar Krähen zogen auf der Suche nach Fressbarem Plastiktüten und Papierfetzen aus einem Abfallkorb, aufmerksam beobachtet von zwei Möwen, die kampfbereit auf der Reling eines als Spielgerät aufgestellten Piratenbootes Stellung bezogen hatten und unruhig hin und her traten, nervös mal den einen Flügel hebend, mal den anderen. Irgendwo, dachte Winkler, ist immer Krieg.

Die seltsamen Bänke, flache, langgestreckte Monolithe aus geschliffenem Granit und noch vom Tau befeuchtet, ließ er links liegen, etwas an ihnen kam ihm falsch vor, um darauf zu sitzen, wären sie jetzt ohnehin zu kalt, während sie in der Mittagssonne wahrscheinlich zu heiß sein würden, außerdem war über Nacht Wind aufgekommen, da war es besser, zu gehen, egal wohin. Immer den Schuhspitzen nach, hatte es in seiner Kindheit geheißen. Im Vorbeigehen riss er etwas von einem Strauch, wie er es immer tat, wenn er nervös war, es war gut, etwas in den Händen zu haben, diesmal war es das Blatt einer Kartoffel-Rose, zwischen deren Blättern und den apfelförmigen Hagebutten eine verspätete Blüte das Verblühen verweigerte und dunkelrosa leuchtete. Auf einer der Bänke, fiel ihm ein, hatte er gestern mit Britta gesessen, in jener kurzen Spanne, in der man auf diesen sogenannten Bänken überhaupt sitzen konnte, diesem Licht des frühen Abends, als das Meer faltenlos und unbewegt wie Blei war, bis die Sonne, es vergoldend, sich langsam gesenkt und es dann am Horizont berührt hatte, schließlich ins Meer eingetaucht war. Es war schön gewesen, und er hatte zu lange hingesehen, so dass ihm die Sonne, als er den Kopf abgewandt hatte, vor Augen geblieben und auch über dem Wald und dann in Brittas Gesicht noch eine Weile aufgeflammt war, selbst als er die Augen geschlossen hatte, war das Leuchten geblieben, ähnlich jener Nachsaison-Blüte der Kartoffel-Rose. Winkler zerrieb das Blatt zwischen den Fingern und warf es weg, zog sich die Kapuze über den Kopf, nahm den durch eine schmale Öffnung zwischen den Dünen führenden Bohlenweg und stapfte dann hinunter zum Strand, der jetzt zum Glück noch menschenleer war, sicher wegen des Wetters, nur fern, wo der helle Sand einen sanften Bogen beschrieb, und eine Wasserlache silbern glänzte, stemmte sich eine Gestalt gegen den Wind, noch war nicht zu erkennen, ob sie näherkam oder sich entfernte. Oder war es nur ein Stück Schwemmholz, das jemand in den Sand gerammt hatte, ein mannshoher Baumstrunk, der Pfosten eines Warnschildes? Hundestrand. FKK-Bereich. Baden auf eigene Gefahr! Er dachte an Britta, die jet