Weiße Tiger
Wenn wir Chinesenmädchen den Geschichten der Erwachsenen lauschten, lernten wir, dass unser Lebenszweck verfehlt würde, wenn wir nur Ehefrauen oder Sklavinnen würden. Schließlich konnten wir Heldinnen werden, Schwertkämpferinnen. Eine Schwertkämpferin rechnete mit jedem ab, der ihrer Familie Schaden zufügte, und wenn sie dazu durch ganz China wüten musste. Vielleicht waren die Frauen einst so gefährlich gewesen, dass man ihnen die Füße bandagieren musste. Es war eine Frau, die gerade mal vor zweihundert Jahren den Weißen-Kranich-Stil erfunden hatte. Als Tochter eines Lehrers, ausgebildet im Shao-Lin-Tempel, wo ein Orden kriegerischer Mönche lebte, war sie bereits hervorragend geübt im Stabfechten. Und als sie sich eines Morgens frisierte, ließ sich ein weißer Kranich vor ihrem Fenster nieder. Sie neckte ihn mit ihrem Stab, den er jedoch mit sanftem Flügelschlag beiseite schob. Verwundert lief sie hinaus und versuchte, den Kranich von seinem Platz zu verscheuchen. Er brach den Stab entzwei. Da sie erkannte, dass hier eine große Macht im Spiel sein musste, fragte sie den Geist des weißen Kranichs, ob er sie das Boxen lehren wolle. Er antwortete mit einem Schrei, den die Weißkranichboxer heutzutage imitieren. Später kehrte der Vogel als alter Mann zurück und leitete viele Jahre lang ihrBoxtraining. So schenkte sie der Welt eine neue Kampfkunst.
Dies war eine der harmloseren, moderneren Geschichten, nichts weiter als eine Einleitung. Andere, die meine Mutter erzählte, begleiteten die Schwertkämpferinnen jahrelang durch Wälder und Paläste. Abend für Abend erzählte meine Mutter Geschichten, bis wir einschliefen. Ich könnte nicht sagen, wo die Geschichten aufhörten und die Träume begannen, wann ihre Stimme zur Stimme der Heldinnen in meinem Schlaf wurde. Und am Sonntag, von Mittag bis Mitternacht, gingen wir ins Kino der Konfuzius-Kirche. Wir sahen Schwertkämpferinnen aus dem Stand über Häuser springen; sie mussten dafür nicht einmal Anlauf nehmen.
Schließlich merkte ich, dass auch ich mich in der Nähe einer großen Macht befunden hatte: meiner Geschichten erzählenden Mutter. Als ich größer war, hörte ich das Lied von Fa Mu Lan, dem Mädchen, das den Platz ihres Vaters in der Schlacht eingenommen hatte. Sofort fiel mir ein, dass ich als Kind meiner Mutter im Haus überallhin gefolgt war, während wir beide davon sangen, wie Fa Mu Lan siegreich gekämpft hatte und heil aus dem Krieg zurückgekehrt war, um sich im Dorf niederzulassen. Ich hatte vergessen, dass dieses Lied einst mir gehört hatte, mir geschenkt von meiner Mutter, die dessen Erinnerungsmacht nicht erkannt haben mochte. Sie erklärte, ich würde zur Ehefrau und Sklavin heranwachsen, und lehrte mich zugleich den Gesang der Kriegerin Fa Mu Lan. Ich würde zur Kriegerin heranwachsen müssen.
Der Ruf würde von einem Vogel kommen, der über unser Dach hinwegflöge. Auf den Tuschzeichnungen sieht er aus wie das Schriftzeichen für »menschlich«: zwei schwarze Schwingen. Der Vogel würde die Sonne kreuzen und sich in die Berge hinaufschwingen (die wie das Schriftzeichen für »Berg« aussehen), wo er flüchtig den Dunst teilen würde, der sich sofort wieder zur Undurchsichtigkeit zusammenzöge. Ich würde an dem Tag, an dem ich