KAPITEL 1
NICHT AUS DEM NICHTS
Der Vater war wütend, er wollt' einen Sohn, ich sah mich so um und wusste auch schon: Von nun an geht's bergab
Hildegard Knef – »Von nun an ging's bergab«
Die Musikindustrie ist sexistisch. Das ist keine haltlose Behauptung oder isolierte Wahrnehmung meinerseits. Wenngleich das Forschungsfeld definitiv noch ausbaufähig ist, gibt es seit den 1980ern eine zunehmende Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten zu den Zusammenhängen zwischen Geschlecht einerseits und der Musikindustrie andererseits, häufig in Form von Studien, basierend auf qualitativen Interviews. Auch in der Presse und in den sozialen Medien nehmen die Berichte von Diskriminierung und Übergriffen betroffener Personen zu. Dennoch ist nach wie vor die Ansicht weit verbreitet, dass es sich bei dem ProblemfeldSexismus in der Musikindustrieum Einzelfälle beziehungsweise Lappalien handelt oder es lediglich um die Besetzung von Festivalslots geht. Wenn große Festivals ihre Headliner-Slots nahezu ausschließlich mit Männern besetzen, sollte uns das natürlich stören, es handelt sich jedoch gewissermaßen um die Spitze des Eisbergs, an der die Genderungerechtigkeit in der Musikbranche besonders offenkundig sichtbar wird. Ein ernsthafter und nachhaltiger Wandel ist nur möglich, wenn wir die zugrundeliegenden Strukturen in den Blick nehmen, so dass wir nicht dazu verdammt sind, stets von Neuem in jedem Einzelfall gegen Benachteiligung anzukämpfen und unsere Rechte einzufordern. Nur wenn wir die Strukturen einer kritischen Analyse unterziehen und sie transformieren, können wir ein langfristiges Fundament schaffen, das eine gleichberechtigte Teilhabe aller ermöglicht und Diskriminierung präventiv verhindert. Umeine solche Analyse wie um konstruktive Ideen, wie sich die Musikindustrie gendergerecht aufstellen könnte, bemüht sich dieses Buch.
Die Strukturen und Probleme, die in den kommenden Kapiteln behandelt werden, betreffen zahlreiche Menschen – direkt als Mitarbeitende, oder indirekt als Fans. Der ArbeitsmarktMusikindustrieist kein kleiner: 2021 waren laut dem Bundeswirtschaftsministerium etwa 1,81 Millionen Menschen in der Kultur- und Kreativwirtschaft tätig – Tendenz steigend. Und das, obwohl die Kulturbranche, vor allem der Teilmarkt Musik, von der COVID-19-Pandemie besonders stark getroffen wurde.1In der Veranstaltungswirtschaft arbeiteten 2023 1,33 Millionen Erwerbstätige; mit 81 Milliarden Euro Umsatz gilt sie als sechstgrößter Wirtschaftszweig Deutschlands.2Apropos Veranstaltungen: Festivals erreichen ebenfalls eine außerordentliche Zahl von Menschen. Laut der Festival-Plattform Höme versammelten allein die auf dem Festival Playground32023 vertretenen Festivals 1.300.000 Besucher*innen im Jahr, nur in Deutschland.4Dazu kommt eine Vielzahl weiterer Festivals, allen voran die Major-Festivals, die bis zu hunderttausende Besucher*innen empfangen. Mehrere Millionen Menschen fahren also in Deutschland jedes Jahr auf Festivals und geben teilweise ihr ganzes Urlaubsbudget für Tickets aus. Auch darüber hinaus erreicht die Musikbranche eine Vielzahl an Menschen. Insbesondere Fangruppen entwickeln in Teilen eine Strahlkraft, die Menschen erreicht, die mit dem Ursprungsprodukt, der Musik, gar keine Berührungspunkte aufweisen. Künstler*innen und ihre Fans sind inzwischen zu einer veritablen politischen Größe geworden. Sichtbar wurde dies beispielsweise durch die Einflussnahme von K-Pop-Fans auf Donald Trumps Wahlkampfveranstaltungen5im Jahr 2020 oder auch durch Taylor Swifts Endorsement im US-Wahlkampf 20246.
Klar ist: Die Musikbranche übt über ihre Reichweite immensen Einfluss aus, und allein deswegen müssen wir uns fragen, wie es um Macht- und Entscheidungsstrukturen sowie Geschlechterfragen in der Branche prinzipiell aussieht.
WASWISSENWIR?
Wie eingangs erwähnt, ist die Musikindustrie nachweislich nicht die progressive und egalitäre Branche, als die sie sich gerne präsentiert. Ganz im Gegenteil: Die Musikindustrie ist durchzogen von sexistischen Strukturen und Merkmalen hegemonialer Männlichkeit7. Dies z