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Donnerstag, 4. September 1969: Erster Schultag nach den Sommerferien
„Der Lüdde ist weg.“
„So eine Schweinerei.“
„Die haben einfach bis nach den Sommerferien gewartet.“
„Als ob sie gehofft hätten, dass wir ihn bis dahin vergessen haben.“
„Den sehen wir nie wieder.“
„Sein Unterricht war ziemlich gut.“
„Er hatte aber auch radikale Ansichten, findet ihr nicht?“
„Er hat es den Nazilehrern hier allerdings mal so richtig gezeigt.“
Michael saß auf der Treppe und lauschte den Gesprächen auf dem Schulhof. Es machte die Runde, was auch er heute Morgen in der Zeitung gelesen hatte: Sein Sozialkundelehrer, der Studienassessor Heinz Lüdde, der erst seit knapp einem halben Jahr an der Georg-Büchner-Schule unterrichtete, war von der Schule geflogen. „GBS-Lehrer entlassen“, lautete die Schlagzeile imDarmstädter Echo. Es war seltsam, den vollen Namenseines Lehrers in der Zeitung zu lesen. Irgendwie auch unfair – warum hatten sie nicht einfach L. geschrieben?
Jetzt bekamen sie einen neuen Lehrer in Sozi. Konnte nur schlechter werden.
In der Ferne sah Michael, wie die Schüler der zwölften Klasse – Unterprimaner hießen sie hier am Gymnasium – zusammenstanden. Sie hatten sich um Karl versammelt. Bestimmt heckten sie irgendeinen Plan aus, der mit Lüdde zusammenhing.
Wo blieb nur Thomas?
Michael musste sich unbedingt mit ihm über die Neuigkeiten austauschen. Hinter ihm lagen langweilige sechs Wochen Sommerferien. Ihr Tiefpunkt waren eindeutig die zwei Wochen bei seinen Großeltern im Allgäu gewesen. Der Höhepunkt war die Fernsehübertragung der Mondlandung, für die er länger hatte aufbleiben dürfen.
Thomas, der Glückliche, hingegen war mit seinen Eltern an die Adria gefahren. Michael war noch nie in Italien. Er stellte es sich aufregend vor. Sicherlich war da viel mehr los als in Seeg. Mehr als den Schwaltenweiher gab es dort einfach nicht. Sein Wasser war kalt, er war jedoch fast täglich darin baden. Er genoss es, dort allein sein zu können. Seine Eltern und Großeltern waren kein einziges Mal mitgekommen, sie hatten keinen Spaß am Schwimmen. Michael aber liebte es – besonders jene stillen Momente, wenn er seinen Kopf eintauchte, bis seine Ohren knapp unter Wasser waren und die Welt um ihn herum verstummte.
Eine gute Sache hatten die Ferien aber doch gehabt: Er hatte ungestört Gitarre üben können. Mittlerweile spielte er sogar schon das knifflige Intro von JimiHendrix'Little Wingziemlich gut – die schönsten dreißig Sekunden Musik, die Michael kannte.
Während er weiter auf Thomas wartete, erinnerte er sich daran, wie Lüdde ihre Klasse, die 9b, im vergangenen Halbjahr übernommen hatte. Von der ersten Unterrichtsstunde an war klar, dass er einen komplett anderen Stil pflegte als alle anderen Lehrer an der Schule – lockerer, freier, offener, antiautoritärer, ja, rebellischer. Okay, Lüdde sah nicht unbedingt aus wie ein Rockstar oder so. Er trug keine langen Haare wie inzwischen die meisten Jungs i