: Malte Borsdorf
: Flutgebiet Roman
: Müry Salzmann
: 9783990142912
: 1
: CHF 13.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 234
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Im Februar 1962 wird Hamburg von der größten Sturmflut seiner Geschichte heimgesucht. Man trifft sich wie immer in Novotnys Hafenkneipe; ein Korn kann bei dem Wetter nicht schaden. Hier in der 'Kogge' hat der junge Karl Blomstedt seine halbe Kindheit zugebracht, weil seine Mutter die Köchin ist. Nun müsste er längst vom Hafen zurück sein, das Wasser steht schon drei Meter über Normalnull. Der Bücherverschlinger soll wie sein Vater Hafenarbeiter werden, obwohl er dafür nicht geeignet scheint; aber fürs Lesen hat man in der Welt der Schauerleute, Kaischuppen und Speicher nicht viel übrig. Die Ehe der Eltern, die Menschen rund um sie, die Hafengeschichten werfen verstörende Schatten auf Karl, just als er der ersten Liebe begegnet. Im sprichwörtlichen und metaphorischen Sinn brechen die Deiche Wie kunstvoll und zugleich schlicht der Autor die Welt der Kogge mit der Katastrophennacht verwebt, ist ein literarisches Ereignis! Das Romanmanuskript hat seinem Autor bereits mehrere Stipendien und die Teilnahme an der Autorenwerkstatt Prosa 2014 des Literarischen Colloquiums Berlin eingebracht.

Malte Borsdorf wurde 1981 geboren und wuchs in Tirol auf. Nach mehreren Jahren in Wien lebt er heute in Kiel. Borsdorf war Teilnehmer der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung im Herrenhaus Edenkoben und erhielt das Aufenthaltsstipendium im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf, ein Startstipendium des österreichischen Kulturministeriums und ein Literaturstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg.

I

1

Das Fahrrad war ein Geschenk des Vaters. Zum Geburtstag und zu Weihnachten und unter der Bedingung, dass er ihm das Essen brachte, mittags zur Arbeit.

Im Hafen fragte er sich durch, hielt sich an die Speicher und Schiffe, bei denen der Vater meistens arbeitete.

Die Arbeiter kannten Karl. Manche nannten ihn „Henkelmännchen“, da sie ihn schon oft gesehen hatten, mit dem Kochgeschirr.

„Schickes Rad. Nimmst du mich mal mit?“, rief meist jemand, „bringst du uns jetzt immer das Essen?“

Und wenn er nach dem Vater fragte, schüttelten die ­Arbeiter den Kopf. Heinrich sei hier nicht, sagten sie, aber das Essen könne Karl gerne hier lassen.

„Ich passe darauf auf“, sagte jemand.

2

Karl hatte Schwierigkeiten, sich auf dem Rad zu halten, da ihn der Wind beinahe vom Sattel wehte. Wie mochte der Vater bei diesem Wetter arbeiten? Er stellte sich vor, wie er dünn und mit hängenden Schultern zwischen seinen Kollegen stand, schuftete und wie ihm die Regentropfen auf den kahlen Kopf pladderten. Die Haare hatte der Vater im Krieg verloren.

Karl zurrte die Jacke enger um sich. Er fühlte sich darin wie in einem Gehäuse. Seine Gedanken drifteten ab. Der Krieg. Er wusste nicht, was das war. Der Krieg schwebte über allem. Wenn es hieß, dass jemand gestorben, verarmt oder nicht bei Trost war, lag es am Krieg, an der Zeitspanne kurz vor seiner Geburt, die in Karls Kopf eine graue Fläche war, aus der alles kam, Erinnerungen, Erzählungen, Witze und das Leid. Baracken aus Wellblech und Spanplatte waren am Deich errichtet worden, für die Flüchtlinge und Ausgebombten, die aber schon so lange darin wohnten, wie er denken konnte.

Heute war er spät dran. Eigentlich hatte er keine Lust gehabt loszufahren. Schon seit Tagen wütete das Wetter, und jetzt war starker Regen dazugekommen, der ihm ins Gesicht peitschte.

Er hatte Angst um das Rad. Mehrfach riss es ihm der Sturm zur Seite, als sei es aus Papier. Ein ungeheures Quietschen hörte er neben sich, und dann sah er eine große Eisenplatte auf ihn zuschlingern. Schnell wich er aus, trat fest in die Pedale. Doch sie prallte gegen die Reifen, und Karl fiel, das Fahrrad im Fallen fest an sich drückend.

Schnell stand er auf und schob das Fahrrad hinter eine Mauer, wo es ihm windgeschützt erschien.

Sollte er es in den Hafen mitnehmen? Was, wenn er es dort verlor? Was würde der Vater sagen, wenn er ohne Fahrrad kam?

Er blickte die Straße hinunter, die Mauer entlang. An einer Stelle war sie durchbrochen und von Gebüsch und einem hohen Baum überwuchert. Er schob das Rad