Sebastian Kleinschmidt
Angst in Sicht!
Kleine Theologie der Nautik
An Bord von Schiffen, ob unter Segeln oder Dampf, war es von alters her üblich, dass die diensthabende Wache neben dem Rudergänger auch den Mann für den Ausguck stellte. Ausguck gehen war für die Sicherheit auf See von größter Bedeutung, da es half, Gefahren zu erkennen und Kollisionen zu vermeiden. Besonders schwierig war die Aufgabe bei schlechter Sicht. Über die Unachtsamkeit der Lugausleute ist schon immer geklagt worden. Nicht nur kam es vor, dass die Leichtmatrosen im Krähennest Entscheidendes übersahen, manchmal geschah es auch, dass sie Sinnestäuschungen zu falschen Meldungen verleiteten.
Was aber würde wohl einem wachhabenden Offizier auf der Kommandobrücke durch den Kopf gehen, wenn der Ausguck eines Tages plötzlich „Angst in Sicht!“ riefe? Er würde denken, der Mann sei verrückt geworden. Denn wer ein äußeres Objekt der Bedrohung – ein anderes Schiff, ein Eisberg, eine Klippe – mit der eigenen inneren Reaktion darauf verwechselt, muss verrückt sein.
Kann man mit der Angst kollidieren? Kann man ihr in letzter Minute ausweichen? Kann man sie umschiffen? Das könnte man, wenn sie ein Objekt wäre, das sich orten ließe. Aber die Angst ist kein Objekt. Auch nicht für das Schiff des Lebens. Sie ist etwas Subjektives in uns, die wir an Deck sind. Den einen ereilt sie, den anderen nicht.
Angst ist eine hochdynamische Reaktion des Organismus auf einen Reiz, ein alarmierendes Gefühl, ein Gemütszustand äußerster Unruhe und nicht gerade schön anzuschauen. Sie verrät sich im unsteten Blick, an den vor Schreck aufgerissenen Augen. Sie ist ein starker Affekt der Schwäche und hat nicht nur wegen ihrer emotionalen Ansteckungskraft, sondern auch durch ihr paradoxes Wesen – sie steigt an, sobald man sie zu beschwichtigen sucht – eine Ausnahmestellung in der seelischen Ökonomie.
Angst kann Tiere und Menschen überfallen. Sie ist genetisch bedingt und wird durch bedrohlich wirkende Signale der Umwelt geweckt. Sie begleitet das Empfinden von Gefährdung, Hilflosigkeit und Ohnmacht, das Weder-ein-noch-aus-Wissen, alles Dunkle und Unheimliche.
Angst ist zukunftsgerichtet und antizipiert Kommendes im Hier und Jetzt. Sie ist eine Brandbotschaft des Gehirns an unser Bewusstsein und unser Unterbewusstsein, an die Dringlichkeit unseres Tuns und Lassens. Sie fordert uns auf, auf der Stelle zu reagieren: entweder durch Flucht oder durch Kampf oder durch Kapitulation. Flüchten sowie Kämpfen vitalisiert und führt aus der Angst heraus, Kapitulieren lähmt und führt tiefer in sie hinein. Man stellt sich tot, als suche man Schutz in der Schutzlosigkeit.
Die schluchtenreiche Landschaft der Ängste hat von jeher die Einbildungskraft der Menschen beschäftigt, und das nicht nur in den Künsten, sondern auch in der Religion. Die wirkmächtigste Metapher im Register der Furchtsamkeit ist die Apokalypse, die in unseren Zeiten eine beispiellose Konjunktur erlebt.
Mit apokalyptisch bezeichnet man katastrophische, schreckensreiche, angsteinflößende Ereignisse. Religiös verstanden sind sie Strafgerichte Gottes, so auch auf Dürers Holzschnitt „Die vier apokalyptischen Reiter“ von 1498. Das berühmte Werk versinnbildlicht die Boten des Jüngsten Gerichts gemäß der Offenbarung des Johannes, nämlich Krieg, Pest, Hunger und Tod, und wie sie erbarmungslos über die zu Boden stürzenden Menschen hinwegstürmen.
Dürfen wir die Corona-Pandemie der Jahre 2020 bis 2022 bei aller Gefährlichkeit, die sie hatte, bei allen Leiden, die sie verursachte, als apokalyptisches Geschehen bezeichnen? Das wäre wohl übertrieben. Dazu sind wir zu glimpflich davongekommen. Außerdem haben wir uns zu helfen gewusst und werden es weiterhin wissen.
Und wie ist es mit dem ruchlosen russischen Überfall auf die Ukraine, dem versuchten Landraub, dem nicht für möglich gehaltenen Eroberungskrieg, der seit dem 24. Februar 2022 im Osten Europas tobt? Das könnte der Sache schon näherkommen, auch deshalb, weil niemand weiß, wohin er noch führen wird.
Und wie steht es mit dem Energienotstand? Und wie mit der Inflation? In allen Kesseln steigt der Druck. Woche für Woche zirkulieren neue Alarmbotschaften: Wohlstandsschwund, Dei