»Das Leben ist echt hart.«
Ros drehte sich verwundert nach der Stimme um. Die Frau, die auf der Liege ein Stück weiter lag, hatte einen ordentlichen, dunklen Bob und prostete ihr grinsend zu. Auf ihrem Kokosnusscocktail schwamm eine dicke Kirsche, und das Glas war hübsch mit einem knickbaren Strohhalm und einem Papierschirmchen verziert.
»Aber irgendjemand muss es schließlich leben, stimmt’s?« Die Fremde zwinkerte ihr zu, bevor sie sich den Strohhalm zwischen ihre leuchtend rot geschminkten und zu einem perfekten O geformten Lippen schob.
Mit ihren vielleicht Mitte dreißig war sie fast so alt wie Ros, aber in deutlich besserer Form. Sie hatte lange, wohlgeformte Beine und trug über ihrem winzigen Bikini einen offenen Seidenkimono, der ihre gleichmäßig gebräunte Haut und ihren schlanken Körper vorteilhaft zur Geltung brachte.
Ros hatte schon seit Jahren keinen Bikini mehr getragen, und wenn sie es genau bedachte, würde sie das sicher auch nie wieder tun. Doch über solche Dinge dachte sie nur selten nach, denn dafür hatte sie normalerweise viel zu viel zu tun.
Verlegen wegen ihres Bauchs und ihrer Oberschenkel rutschte sie auf ihrem Liegestuhl herum.Du bist perfekt, Mummy, erzählten ihre Töchter ihr. Sie waren noch jung genug, um ihre Mutter zu bewundern, und Ros freute sich darüber, denn es würde garantiert nicht immer so bleiben.
»Auf jeden Fall.« Sie lächelte zurück und prostete der fremden Frau ironisch mit dem mitgebrachten Saftbecher aus Plastik zu. Um Geld zu sparen, brachten sie und Adam immer Snacks und etwas zu trinken mit. Sie hatte sich die Preise auf der Karte angesehen, und wenn sie alles an der Bar des Pools bestellen würden, wären sie bald blank.
Zwischen ihren Brüsten sammelte sich Schweiß. Eilig schob sie sich auf ihrer Liege tiefer in den Schatten ihres Sonnenschirms. Sie mochte Wärme, doch die wolkenlose Hitze auf Mallorca im August war sogar ihr zu viel. Den halben Tag lang cremte sie die Mädchen gegen deren Willen ein und trug ihnen die breitkrempigen Hüte, die sie vor der Sonne schützen sollten, hinterher.
Jetzt schirmte sie die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und blickte Richtung Pool. Das Wasser glitzerte im Sonnenlicht, und ihre beiden Töchter spritzten sich am flachen Ende unter lautem Juchzen gegenseitig nass. Es waren Freudenschreie, aber trotzdem war sie wachsam, denn mitunter wurde aus Sophies und Bellas Spielen plötzlich ernst, und dann kam es zum Streit.
Sie blickte auf und sah den Ober, der in ihre Richtung kam. Er ging zu ihrer Nachbarin und stellte schwungvoll einen Teller voll mit frischem Obst auf einem kleinen Tischchen ab.
Verstohlen sah sich Ros den Teller an. Stücke von Bananen, Ananas und Kiwi, ein Limettenschnitz und ein paar Stücke einer rot-orangefarbenen Frucht, die sie nicht kannte, waren dort zusammen mit einer kleinen Gabel kunstvoll arrangiert. Es sah phantastisch aus, nur dass es sicher furchtbar teuer war. Fürs selbe Geld bekäme man im Supermarkt bestimmt ein halbes Kilo frisches Obst. Wahrscheinlich hätten einige der anderen Mütter aus der Schule einen Schnappschuss von dem Obstteller gemacht und ihn gepostet, weil sie hofften, dass die anderen Frauen neidisch wären.
Lächelnd ließ der Ober den Blick an ihrer Nachbarin herunterwandern, doch das schien sie nicht zu stören, denn sie lächelte zurück, richtete sich auf, schlang sich den Kimono um den Bauch und schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf.
»Natürlich ist das furchtbar dekadent«, erklärte sie und blitzte Ros vergnügt aus ihren blauen Augen an. »Aber was soll’s? Man lebt schließlich nur einmal, oder nicht?«
Anscheinend hatte Ros sie angestarrt. Mit einem entschuldigenden Grinsen wandte sie sich ab. Sie überlegte, ob sie weiterlesen sollte, auch wenn sie dabei bisher nicht weit gekommen war. Normalerweise war auch Adam mit am Pool, doch heute spielte er auf dem verdorrten Platz am Meer mit ein paar anderen Männern Golf, und die paar freien Stunden hatte er sich rechtschaffen verdient. Er brauchte diesen Urlaub wirklich dringend, denn er arbeitete hart, doch bisher hatte er den größten Teil der Zeit mit ihren Mädchen hier im Pool verbracht und sie von seinen Schultern springen lassen oder in die Luft geworfen. Lächelnd dachte Ros, dass er ein wirklich wunderbarer Vater war.
»Na los, probieren Sie.«
Die Stimme zog sie wieder in die Gegenwart zurück. Der Mund der Frau war voller Ananas, jetzt aber nahm sie den Limettenschnitz und drückte ihn über dem Obst, das Ros nicht kannte, aus. Dann pikste sie ein Stück mit ihrer Gabel auf und schob den Teller so, dass er für Ros erreichbar war. »Hier. Die Papaya ist echt gut.«
»Nein danke«, wehrte Ros verlegen ab.
»O doch! Die müssen Sie probieren!« Die Frau hielt ihr die Gabel mit dem wild schwankenden Stück Papaya hin. »Na los! Bevor es runterfällt.«
Papaya hatte Ros noch nie probiert. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, etwas so Exotisches zu kaufen, doch jetzt zupfte sie das Stück mit den Fingern von der Gabel ab, und als sie es sich in den Mund schob, löste es sich dort zu einem feuchten Klumpen auf. Sie leckte sich die Finger ab und konnte wegen ihres vollen Mundes während eines Augenblicks nicht sprechen, aber plötzlich traf sie der Geschmack mit aller Macht, und ihr entfuhr ein »O mein Gott, das schmeckt tatsächlich wunderbar«.
»Nicht wahr?« Grinsend pikste die Frau ein Stück Papaya für sich selbst auf. »Na los, greifen Sie zu. Alleine schaffe ich das alles nicht.«
»Sind Sie sich sicher?«
Lächelnd schob sich die Frau ein weiteres Stück Papaya in den Mund und pikste dann für Ros ein zweites Stück mit ihrer Gabel auf. Ros stellte sich schon vor, wie sie später ihrem Mann davon auf amüsante Art berichten und er lachen und wie immer scherzhaft sagen würde, dass er sie nicht einen Augenblick allein lassen könne, ohne dass sie irgendjemand Fremden treffe, der das dringende Bedürfnis hatte, ihr ausführlich die Geschichte seines Lebens zu erzählen. Und es stimmte, denn sie war ein offener Mensch und hörte anderen gerne zu. Das zahlte sich bei ihrer Arbeit, aber meistens ebenfalls in anderen Bereichen ihres Lebens aus, weshalb sie auch zu ihren Mädchen immer sagte, dass es niemals schaden könne, wenn man Freundschaft mit den Leuten schloss.
Am Ende hatten sie den Teller leer gegessen, und die Fremde legte ihre Gabel in die Pfütze Saft, die übrig war, tupfte sich den Mund mit einer ordentlich zusammengefalteten Serviette ab und reichte ihr die Hand. Eilig wischte Ros sich ihre Klebefinger mit dem Handtuch ab, schüttelte die angebotene Hand und fand die Geste seltsam förmlich, aber durchaus angenehm. Es war, als schlössen sie auf diese Weise einen Urlaubs-Freundschafts-Deal.
»Ich heiße Ros.«
»Lotte.«
»Ist das –«, begann Ros, als die Jüngere von ihren Töchtern tropfnass angelaufen kam und mit hängenden Schultern vor ihr stehen blieb.
»Mummy!«
Ros breitete ein großes Handtuch aus, wickelte die vierjährige Bella darin ein und rubbelte ihr sorgfältig die Haare ab. »Was ist denn los, mein Schatz?«
Bella blickte bitterböse Richtung Pool, in dem die große Schwester Sophie Handstände am flachen Ende machte und vermied, dorthin zu sehen, wo ihre Mutter saß.
»Sophie hat mich untergetaucht«, klärte die Kleine sie mit zornbebender Stimme auf.
Ros schnalzte mit der Zunge, denn auch wenn sie nicht Partei ergreifen wollte, glaubte sie dem Kind. Sie hatte Sophie diesen Sommer schon des Öfteren dabei erwischt, wie sie die kleine Schwester drangsalierte, auch wenn sie nicht wusste, was der Grund für ihr Verhalten war. Jetzt nahm sie die noch immer in das Handtuch eingehüllte Tochter in den Arm und drückte sie. »Das war nicht nett von ihr. Arme Bella.« Eilig trocknete sie auch noch das Gesicht der Tochter ab, küsste ihre Nasenspitze, klopfte auf den Liegestuhl und fragte sie: »Warum bleibst du nicht hier bei mir? Wir können Karten spielen, wenn du willst.«
Doch Bella schüttelte den Kopf, besprühte ihre Mutter dabei leicht mit chlorigem Wasser, schüttelte das Handtuch ab, atmete tief durch und rannte wieder dorthin, wo die Schwester schon auf sie zu warten schien. Sie krabbelte zurück...