Einleitung
Thomas Schübel und Telse Iwers
Gestaltpädagogik bereichert als wichtigste Variante Humanistischer Pädagogik seit vielen Jahrzehnten pädagogisches Denken und Handeln. Ihre Ideen haben längst Eingang gefunden in den didaktischen und methodischen Kanon pädagogischer Handlungsfelder. Die Entwicklung der Gestaltpädagogik ist seit mehr als fünfzig Jahren auf das Engste verzahnt mit reformerischen Bestrebungen vor allem im Schulkontext und damit auch, wenngleich eher indirekt, mit der erziehungswissenschaftlichen Theorieentwicklung in dieser Zeitspanne. Die Gestaltpädagogik hat (neben anderen Ansätzen) ab den 1970er Jahren zunächst eine neue Generation von Lehrer*innen inspiriert, die jenseits der alten Gehorsamserziehung Lernen als Persönlichkeitsentfaltung auffasste. Wenn heute in der Erziehungs- und Bildungswissenschaft mit großer Selbstverständlichkeit die zentrale Bedeutung der pädagogischen Beziehung (Graf/Iwers 2019) betont wird, dann ist die Gestaltpädagogik mit Sicherheit auch eine zentrale Quelle dieser akademischen Entwicklung. Jörg Bürmann (1992) brachte den Kerngedanken der Gestaltpädagogik auf den Punkt: Lernen soll kein stupides Auswendiglernen sein, sondern ein „persönlich bedeutsames Lernen“. Neben Jörg Bürmann waren es vor allem Ilse Bürmann (1997) und Günther Holzapfel (2002), heilpädagogisch auch Roland Stein (2005), die immer wieder nach möglichen gestaltpädagogischen Anschlüssen zur akademischen Pädagogik und ihren Bildungsansätzen suchten. In jüngerer Zeit wird diese Tradition wieder verstärkt aufgegriffen (vgl. Schübel 2023a sowie einige Beiträge in Schübel 2023b). Darüber hinaus hat gestaltpädagogisches Denken kontinuierlich, wenn auch teilweise nur implizit, den erziehungswissenschaftlichen Diskurs im Umfeld der Kommission Pädagogik und Humanistische Psychologie innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Gestalt vieler Publikationen angeregt (vgl. z. B. aktuell Graf et al. 2024).
Das kritische Bildungsverständnis der Gestaltpädagogik, ihr ökologisches Verständnis von Lernen sowie ihre Fokussierung auf einen für alle Beteiligten stimmigen Kontakt ist in hohem Maße anschlussfähig an aktuelle bildungstheoretische Positionen der Erziehungswissenschaft (vgl. Schübel 2023a). Ziel dieses Bandes ist es, Anschlüsse zwischen Gestaltpädagogik und Erziehungswissenschaft zu diskutieren und sichtbar werden zu lassen. Es wird sich zeigen, dass durch einen solchen Dialog beide Seiten profitieren: sowohl die Gestaltpädagogik in Theorie und Praxis als auch die Erziehungswissenschaft als akademischer Diskurs professioneller Pädagogik. Dazu nehmen die Autor*innen dieses Bandes recht unterschiedliche Perspektiven ein. Diese lassen sich grob in theoretische und empirische Beiträge einerseits sowie handlungsfeldbezogene Zugangsweisen andererseits unterteilen.
Theoretische und empirische Zugänge
Telse Iwers versucht in ihrem BeitragVerortung der Gestaltpädagogik in Theorietraditionen und aktuellen Konzepten der Erziehungswissenschaft eine grundlegende Einordnung der Gestaltpädagogik in erziehungswissenschaftliche Theorielinien, indem sie einigen Entwicklungsschritten der Pädagogik als Disziplin nachgeht und Parallelen der einzelnen Epochen bzw. Strömungen zur Gestaltpädagogik herausarbeitet. Die Gestaltpädagogik ist relativ jung, allerdings sind in ihr Anteile verschiedener Phasen zu finden, die in ihrem Theoriekonstrukt neben den in vielen Publikationen genannten Wurzeln (Gestaltpsychologie, Gestalttherapie, Confluent Education, Reformpädagogik) kumulieren. Auch im Hinblick auf neuere erziehungswissenschaftliche Konzeptionen wie die transformatorische Pädagogik lassen sich Gemeinsamkeiten finden, womit die Aktualität der Gestaltpädagogik ebenso wie ihre Multiperspektivität deutlich werden.
Monika Jäckle entwickelt in ihrem BeitragÜber die Praxeologie des Kontaktes. Gestaltpädagogische Konturen der Beziehung in Erziehungs- und Entwicklungsprozessen einen erziehungswissenschaftlichen Zugang zur Gestaltpädagogik, in dem der „Kontaktbegriff als struktureller Grundbegriff pädagogischer Operationen“ im Fokus steht. Sie geht der Frage nach, wie dieser aus „praxeologischer, handlungstheoretischer Sicht“ „unter einer entwicklungsspezifischen Perspektive beschrieben und untersucht werden kann“. Mit ihren zentralen Konzepten „sorgende Präsenz“ und „resonante Prägnanz“ entwirft sie ein theoretisch fundiertes Praxisverständnis der Gestaltpädagogik, das die „leiblichen, bedürfnisorientierten und existenziellen Bedingungen des Kindes im Blick hat“.
Thomas Schübel erschließt in seinem BeitragRelationale Pädagogik und Gestaltpädagogik. Theorie des Kontakts als Beitrag zur Professionalisierung pädagogischer Beziehungen das Kontaktmodell des Gestaltansatzes für die theoretische Auseinandersetzung mit dem Konzept der pädagogischen Beziehung. Ausgehend von einem relationalen Paradigma diskutiert er die Theorie des Kontakts im Rahmen einschlägiger erziehungswissenschaftlicher Annäherungen an den Beziehungsaspekt pädagogischer Interaktionen. „Kontakt“ wird phänomenologisch konturiert als der Erfahrungsaspekt der pädagogischen Beziehung und deren „Tiefendimension“. Mit Blick auf pädagogisches Handeln entwirft der Autor das Leitkonzept einer (kon)taktvollen pädagogischen Beziehung als austariert zwischen Beziehungund Begrenzung.
Daniel Weghaupt diskutiert in seinem BeitragPädagogik der Achtsamkeit und Gestaltpädagogik ausgehend von den „virulentesten ökologischen und sozialen Bedrohungen“ unserer Zeit, „inwieweit die Pädagogik der Achtsamkeit in Verbindung mit der Gestaltpädagogik die Beziehungsgestaltung sowie Weltbeziehungsbildung adressiert“. Er arbeitet dabei Gemeinsamkeiten beider Ansätze heraus und zeigt deren Nutzen für die Entwicklung einer achtsamkeitsbasierten Weltbeziehung auf. Ebenso beschreibt er drei „Dialogstränge“, entlang derer Achtsamkeitskonzepte und Gestaltpädagogik aufeinander bezogen werden können.
Wiebke Stöhr und Gisela C. Schulze berichten inVon Fehlern, Korrekturen und Beschämungen. Eine Pilotstudie zu Schamerleben bei Lehrkräften aus gestaltpädagogischer Perspektive von ihrer Pilotstudie zu schulischen Schamsituationen. Ausgehend von einer ausführlichen Explikation des Schambegriffs nähern sie sich dem ihrer Ansicht nach vernachlässigten Phänomen des Schamerlebens bei Lehrkräften und stellen ihr Studiendesign vor. Im Rahmen einer schriftlichen Online-Befragung wurden Lehrkräfte einer Grund- und Gesamtschule nach Situationen aus dem schulischen Kontext gefragt, in denen sie sich geschämt haben. Auf der Grundlage von 30 Narrationen extrahieren die Autorinnen acht typische Schamsituationen und kommen zu dem Schluss, dass die Schamgefühle aller Akteur*innen im Schulkontext, beginnend in der Lehramtsausbildung, umfangreicher reflektiert werden sollten. Den gestaltpädagogischen Beitrag sehen die beiden Autorinnen insbesondere in der thematischen und forschungsmethodischen Sensibilisierung für das Thema.
Cornelia Muth zeigt in ihrem BeitragGestaltpädagogik als relationale Interaktionstheorie aus Sicht einer phänomenologischen Erziehungswissenschaft Anknüpfungspunkte der Gestaltpädagogik zu aktuellen Diskussionen in der phänomenologischen Pädagogik. Dabei zeigt sie auf, dass die Verbindung insbesondere über „phänomenologische Seins- und Erkenntnisformen“ gelingt. Wahrnehmung des Anderen werde in der Gestaltpädagogik ebenso wie in Levinas Ethik nicht von deskriptivem Wissen vom Anderen geleitet, sondern vom Sein selbst und dessen Sinn, das zu authentischem Kontakt führe. Sie verdeutlich diese Verbindungslinien mit der Darstellung einiger Fallvignetten aus einem internationalen Online-Hochschulprojekt, die bezeugen, wie es den Studierenden gelingt, ihr intuitives Wahrnehmen bewusst zu reflektieren.
Thomas Schübel diskutiert in seinem BeitragDer Unruhe Halt geben. Gestaltpädagogische Perspektiven auf „ADHS“ den Beitrag der Gestaltpädagogik zu einer professionell eigenständigen erziehungswissenschaftlichen Perspektive in Abgrenzung zu störungsorientierten klinischen Zugängen, und zwar am Beispiel der klinisch als...