3Forschungspraktisches Vorgehen und Methode
3.1Vorüberlegungen
In diesem Kapitel werden die Entwicklung des Forschungsinteresses, der Feldzugang und die Fragestellung dargelegt. Zum Verständnis des Herangehens an den Untersuchungsgegenstand werden die biografischen Vorprägungen des Autors vorgestellt und es wird der Bezug zum Theaterspiel Jugendlicher erläutert; ebenso wird das forschungsmethodische Vorgehen nach der Grounded Theory Method (GTM) als Untersuchungsmethode begründet. Die Darstellung entspricht der Forschungslogik und ist ebenso wie diese iterativ angelegt. Die Untersuchung bewegt sich in einer permanenten Vor-, Seit- und Rückwärtsbewegung, d. h. jeder Schritt nach vorn wird mit Rekurs auf vorangegangene Schritte und unter Einbeziehung flankierender Wissensbestände unternommen. Außerdem wird in diesem Kapitel auf einige forschungspraktische Probleme und ihre Lösungen eingegangen.
3.2Darstellung
Zunächst soll aber das Problem der schriftlichen Darstellung von Forschungsergebnissen erörtert werden, das in qualitativen Untersuchungen11 zwangsläufig auftritt, da es hierbei darauf ankommt, „die Wirklichkeit der Anderen nicht mehr unter theoretisch hergeleitete Kategorien unterzuordnen, sondern den historischen, milieuspezifischen, [sic] und/oder den geschlechtsspezifischen Besonderheiten der Situationen Rechnung zu tragen“ (Matt 2005, S. 581). Die „Besonderheiten“ bedingen einen je eigenen sprachlichen Ausdruck, denn „[d]em deduktiven System der Scholastik wird eine andere Darstellung der Welt gegenübergestellt, die das einzelne aus dem systematischen Ableitungszwang herauslöst und so als Konkretes beschreibbar macht“ (Bude 1989, S. 527). Auch können die unterschiedlichen Facetten aus realistischer Darstellung sowie selbst-bekennenden und impressionistischen Beschreibungen (vgl. Matt 2005, S. 584) die Grenze zwischen der wissenschaftlich erforderlichen Darstellung und dem „Essay als Form der Darstellung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis“ (Bude 1989, S. 526) leicht überschreiten. Dieser Forschungsstil und die damit einhergehende Form der Darstellung wecken womöglich Zweifel an der Validität der Ergebnisse und damit der Seriosität des Vorhabens; dieser Gefahr soll hier vorgebeugt werden.
In Bezug auf den Forschungsgegenstand sind die von Matt (2005) angeführten Besonderheiten vor allem in der Lebenswelt der Jugendlichen einerseits und im professionellen Milieu des Theaters andererseits zu sehen; beiden Besonderheiten muss die Darstellung methodisch und sprachlich gerecht werden. So gilt es, den Jargon der Jugendlichen wie auch des Theaters zu verstehen und allgemeinsprachlich, also möglichst ohne größere Verluste des semantischen Gehalts, zu übersetzen. Wie lässt sich beispielsweise die in den Forschungsinterviews mehrfach verwendete jugendsprachliche Vokabelkrass ohne Bedeutungsverlust interpretieren? Was verbirgt sich etwa hinter dem Begriff derEntwicklung, den eine Interviewpartnerin zur Beschreibung ihrer Erfahrungen im Jugendclub prominent und wiederkehrend verwendet?
Die Wiedergabe der „Wirklichkeit als Text“ (Matt 2005, S. 581) verursacht weitere Schwierigkeiten: Die Grounded Theory Method bedingt ein iteratives Vorgehen, Texte jedoch folgen, zumal in der Wissenschaft, einer schematischen Dramaturgie. Die teils parallel unternommenen Schritte der Kodierung und des Memoing (vgl. Abschnitte 3.7.1 und 3.7.2), also der Aufarbeitung der Daten und der permanenten Aufzeichnung von Beobachtungen und Reflexionen des Forschers, sowie dieLoops, d. h. Schleifen, die sich im Zuge des Theoretical Sampling (vgl. Abschnitt 3.6.3) ergeben, verlieren durch die Darstellung im linear verfassten Text die Dimensionen von Gleichzeitigkeit und Überlagerung und werden in eine scheinbar zwangsläufige Chronologie gefügt, mit der die Komplexität der Forschung nicht ausreichend erfasst wird. Die Dimensionen sind aber zur vollständigen Erfassung des Forschungsgeschehens nötig, denn sie konturieren die Selbstreflexivität des Forschers im Prozess der Forschung und nicht in nachgesetzten Reflexionsphasen.
Ungeachtet dieses Konflikts zwischen iterativem Prozess und gradliniger Darstellung hat die vorliegende Arbeit eine lineare und systematische Struktur. Ihr Aufbau folgt dem von Kruse (2015, S. 624–631) vorgeschlagenen Schema, das „mehrere Stufen bzw. Schichten von ‚Empirie-Theorie‘-Kapiteln“ vorsieht (ebd., S. 629). Dieses Stufen- bzw. Schichtverfahren versucht die diachrone Dynamik bzw. die iterativ-zyklische „Spiralbewegung“ (Breuer 2010, S. 48) von empirischen Erkenntnissen innerhalb des Forschungsprozesses widerzuspiegeln (vgl. Breuer 2009). Durch diese Darstellungsweise soll die Struktur der im Forschungsprozess miteinander verwobenen Schritte von Theorie und Empirie sichtbar gemacht werden, um „eine gegenstandszentrierte Theoriebildung zu ermögliche, welche epistemologisch die diachrone Verschränkung von Theorie und Empiriearbeit notwendig macht“ (Kruse 2015, S. 629). Für die Gliederung bedeutet dies, dass nicht voneinander abgesetzte Kapitel über die Empirie und über die theoretischen Bezüge hintereinandergestellt werden, sondern die zur Theorienbildung herangezogenen größeren theoretischen Konzepte mit der Darstellung der Ergebnisse verwoben sind. Die angestrebte mehrdimensionale Beschreibung erfährt hierdurch eine weitere Verdichtung.
Bei der Anwendung des Schemas nach Kruse hat sich die acht Punkte umfassende „Checkliste“ (Kruse 2015, S. 624–627) bewährt, die Anhaltspunkte für eine möglichst lebendige und vollständige Wiedergabe des Forschungsprozesses gibt.12 Die Punkte werden nicht chronologisch abgearbeitet, sondern finden sich teils verstreut und im Zusammenhang mit unterschiedlichen Phasen im Methodenkapitel wieder, um den Forschungsprozess plastisch darzustellen.
3.3Zwei Perspektiven auf den Gegenstand
Die Untersuchung verfolgt wie dargelegt den Anspruch, aus der Innensicht der Jugendlichen auf deren Erfahrungen zu blicken und sich ihre Perspektive zu eigen zu machen. Des ungeachtet besteht der wissenschaftliche Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit derGrounded Theory bzw.Theories also der Theorien sogenannt mittlerer Reichweite (Endreß 2017a) über den Forschungsgegenstand, der nicht mit dem Streben nach Objektivität zu verwechseln ist und die Einnahme einer Außenperspektive erforderlich macht. Die Vereinigung beider Perspektiven ist das Ziel der eingesetzten Methode.
Zu diesem Ziel dürfen keine oder nur so wenige Vorannahmen wie möglich und auch keine von Erwartungen an das Clubgeschehen geprägte Kategorien zugrunde gelegt werden, anhand derer die gemeinsam mit den Forschungspartner:innen gewonnenen Daten ausgewertet oder sogar bewertet würden. Als geeignete Forschungsstrategie zur Bildung akteur:innenbezogener Kategorien hat sich die Orientierung an der sozialpädagogischen Nutzer:innenforschung (Oelerich und Schaarschuch 2013) erwiesen, deren Einsatz im Folgenden dargelegt wird.
3.3.1Die akteur:innenbezogene Perspektive
Angebote kultureller Bildung, hierzu gehören ganz offensichtlich die Jugendclubs an Theatern, weisen deutliche Ähnlichkeiten und Parallelen mit sozialpädagogischen oder sozialarbeiterischen13 Unterstützungsmaßnahmen auf, auch wenn sie aufgrund wesentlicher Unterschiede nicht gleichgesetzt werden dürfen. In ihren Herleitungen beziehen sich Kulturelle Bildung und Soziale Arbeit jedoch vielfach auf dieselben Theorien. Burkhard Hill (2015) etwa stützt sich in seiner kritischen Unterscheidung von Jugendhilfe und kultureller Bildung auf Klaus Mollenhauers erweitertes Verständnis der Jugendhilfe und zitiert dessen 1964 formulierte und auf Bäumers Theorie von 1929 zurückgreifende Position:
„[S]o besteht die pädagogische Aufgabe nicht nur darin, jenen...