Weit, weit oben, wo die Zweige in Spitzen auslaufen, habe ich mich in einer Verästelung unseres Familienstammbaumes eingenistet und versuche Bericht zu erstatten. Mit einer Distanz, die mich wie einen Unbeteiligten in Schutz nehmen soll. Da die meisten Verwandten meinem Ergründungsdrang nur wortkarg begegnen, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu raten und zu kombinieren, was mich zu der Person gemacht haben könnte, deren Existenz ich gegenwärtig auszusitzen habe. Weil – genauso wie meine Schwester Lupida – zwischen zwei Kulturen aufgewachsen, fühle ich mich oft deplatziert und nirgends ganz zugehörig. Die Heimat unserer Mutter ist durch zahlreiche Länder von der unseres Vaters getrennt.
Viel früher ist diese Entfernung nur mit dem Schiff und der transsibirischen Eisenbahn zu bewältigen gewesen, heute gibt es Direktflüge ab Wien, um innerhalb eines Tages auf Formosa zu landen.
Was die Sache ehrlich gesagt nicht leichter macht.
Wir Kinder sind dem ständigen Vorwurf der Familien ausgesetzt, jeweils zu kurz an einem Ort zu verweilen. Dem Tauziehen nicht unähnlich – man wäre überrascht, wie oft es dabei zu Amputationen der Gliedmaßen, sogar zu tödlich endenden Seilrissen kommt – zerren uns zwei Familienhälften in entgegengesetzte Richtungen.
Während Lupida schnell die Vorzüge des Westens zu genießen gelernt und sich dem familiären Tauziehen entzogen hat, ist mir ein ständiges Wippen von der einen auf die andere Seite in die Wiege gelegt worden – weder das Hier noch das Dort will mir geeignet fürs Sesshaftwerden erscheinen. Bin ich an dem einen Ort, lockt der andere.
Lupida schimpft deswegen, weil man sich so nichts Anständiges aufbauen kann, ich stimme ihr zu und weiß es trotzdem nicht besser zu machen. Bin mir unsicher, wo ich andocken soll.
Bin mir überhaupt unsicher, was ich mit mir anstellen soll. Meine sogenannten Talente bleiben erbärmlich mittelmäßig, da ist nichts, was meinen Fokus für längere Zeit ruhig halten könnte. So viele erste Sätze und ins Ohr kriechende Melodien, so viel Halbgares, Angeschnitztes, Tongeformtes, so oft Leinen bekleckert, dann Leine gezogen. So viel dieLuft-ist-draußen. So vielvon vorne anfangen, dass ich einzig darin gut geworden bin. Ankerlos treibe ich.
Drum: Jedes Mal, wenn der Himmel tränt und das Wasser nicht abrinnt, steh’ ich über Pfützen gebeugt und versuche aus meiner Reflexion schlau zu werden. Mal starre ich in die Wasserlandschaft, die Taifune hinterlassen haben, mal in jene, die die Schneeschmelze gebildet hat, und glotze mir mithilfemeiner Spiegelung die Vergangenheit lebendig. Will endlich wissen, wen ich vor mir habe – suche einen Knotenpunkt.
Verspielt legt mir die Pfütze die ernsten Züge des Großvaters Lín an, und ich sehe ihn als ehrgeizigen und respektierten Direktor einer Volksschule nahe Tainans, der im Streben nach Korrektheit die roten Taschen der Lehrenden und Kleinpolitiker:innen ablehnt. Was für damals außergewöhnlich ist.
Rote Taschen – eine Wortkreation unserer Mutter, die den Begriffhóngbāoeinfach wortwörtlich ins Deutsche übersetzt hat – sind auf Formosa die gängige Verpackung für Geldgeschenke. Vor allem zu Mond-Neujahr werden die roten Kuverts von den im Arbeitsleben stehenden Familienmitgliedern verschenkt. Lässt man jemandem am Arbeitsplatz eine rote Tasche zukommen, handelt es sich dabei meist um den Vers