: Jimmy Brainless
: Im Schein der Pfütze Roman
: Müry Salzmann
: 9783990142769
: 1
: CHF 19.90
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: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 330
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie ruft man Erinnerungen wach? Der eine beißt in eine Madeleine und schlürft Lindenblütentee, ein anderer steht über eine Pfütze gebeugt und 'glotzt sich die Vergangenheit lebendig'. Weil der Monsun in Taiwan allgegenwärtig ist, mangelt es nicht an Wasserpfützen, in denen sich für Simon - einen Gespaltenen zwischen zwei Welten und unentschlossen, was seine Zukunft betrifft - die Geschichte seiner Familie zu spiegeln scheint, mal wie sie wirklich war, mal wie sie gewesen sein könnte: Nahe Tainan führt Lín Jin-Yì das Regiment als Schul- und Haushaltsvorstand. Seine Sparsamkeit ist legendär, die Duldsamkeit seiner Frau auch. Am Wiener Alsergrund indes spiegelt die Pfütze einen anderen Mann, den geachteten wie gefürchteten Exekutor Anton, der nicht nur seine Schuhe, sondern auch die Vergangenheit zu polieren weiß. Was die beiden verbindet: Sie pflanzen sich leicht zeitversetzt auf zwei verschiedenen Kontinenten fort und werden eines Tages Großväter von Simon. Zuvor müssen sich freilich noch Jin-Yìs Tochter und Antons Sohn kennenlernen... 'Im­ Schein­ der­ Pfütze' ist ein drei Generationen und zwei Kontinente umspannendes Kaleidoskop an Geschichten und Figuren. Packend wie lehrreich, insbesondere was die hierzulande wenig bekannte Geschichte und Kultur Taiwans angeht.

Jimmy Brainless ist Musiker und Autor mit taiwanischen Wurzeln. Mitglied der Band 'Gurkenalarm' und Teil von 'Michaela und Jimmy', welche Kinderlieder und -geschichten schreiben. 2017 und 2019 reiste er mit Elias Hirschl durch Asien, wo sie über 30 Auftritte spielten. Jimmy Brainless tritt auch solo mit eigenem Programm auf und schreibt Texte, die in diversen Literaturmagazinen und Anthologien publiziert wurden. 2023 belegte er beim Wortreich-Kurzgeschichtenwett ewerb den 2. Platz. Im Schein­ der­ Pfütze ist sein Romandebüt; es besteht aus zwei Teilen. Der vorliegende 1. Teil nimmt die Elterngeneration in den Fokus, Teil 2 geht noch weiter im Stammbaum zurück.

Am Anfang der Durchforstungen

Weit, weit oben, wo die Zweige in Spitzen auslaufen, habe ich mich in einer Verästelung unseres Familienstammbaumes eingenistet und versuche Bericht zu erstatten. Mit ­einer Distanz, die mich wie einen Unbeteiligten in Schutz nehmen soll. Da die meisten Verwandten meinem Ergründungsdrang nur wortkarg begegnen, bleibt mir nichts anderes übrig, als zu raten und zu kombinieren, was mich zu der Person gemacht haben könnte, deren Existenz ich gegenwärtig auszusitzen habe. Weil – genauso wie meine Schwester Lupida – zwischen zwei Kulturen aufgewachsen, fühle ich mich oft deplatziert und nirgends ganz zugehörig. Die Heimat unserer Mutter ist durch zahlreiche Länder von der unseres Vaters getrennt.

Viel früher ist diese Entfernung nur mit dem Schiff und der transsibirischen Eisenbahn zu bewältigen gewesen, heute gibt es Direktflüge ab Wien, um innerhalb eines Tages auf Formosa zu landen.

Was die Sache ehrlich gesagt nicht leichter macht.

Wir Kinder sind dem ständigen Vorwurf der Familien ausgesetzt, jeweils zu kurz an einem Ort zu verweilen. Dem Tauziehen nicht unähnlich – man wäre überrascht, wie oft es dabei zu Amputationen der Gliedmaßen, sogar zu tödlich endenden Seilrissen kommt – zerren uns zwei Familienhälften in entgegengesetzte Richtungen.

Während Lupida schnell die Vorzüge des Westens zu genießen gelernt und sich dem familiären Tauziehen entzogen hat, ist mir ein ständiges Wippen von der einen auf die andere Seite in die Wiege gelegt worden – weder das Hier noch das Dort will mir geeignet fürs Sesshaftwerden erscheinen. Bin ich an dem einen Ort, lockt der andere.

Lupida schimpft deswegen, weil man sich so nichts Anständiges aufbauen kann, ich stimme ihr zu und weiß es trotzdem nicht besser zu machen. Bin mir unsicher, wo ich andocken soll.

Bin mir überhaupt unsicher, was ich mit mir anstellen soll. Meine sogenannten Talente bleiben erbärmlich mittel­mäßig, da ist nichts, was meinen Fokus für längere Zeit ruhig halten könnte. So viele erste Sätze und ins Ohr kriechende Melodien, so viel Halbgares, Angeschnitztes, Tongeformtes, so oft Leinen bekleckert, dann Leine gezogen. So viel dieLuft-ist-draußen. So vielvon vorne anfangen, dass ich einzig darin gut geworden bin. Ankerlos treibe ich.

Drum: Jedes Mal, wenn der Himmel tränt und das Wasser nicht abrinnt, steh’ ich über Pfützen gebeugt und versuche aus meiner Reflexion schlau zu werden. Mal starre ich in die Wasserlandschaft, die Taifune hinterlassen haben, mal in jene, die die Schneeschmelze gebildet hat, und glotze mir mithilfemeiner Spiegelung die Vergangenheit lebendig. Will endlich wissen, wen ich vor mir habe – suche einen Knotenpunkt.

Verspielt legt mir die Pfütze die ernsten Züge des Großvaters Lín an, und ich sehe ihn als ehrgeizigen und respektierten Direktor einer Volksschule nahe Tainans, der im Streben nach Korrektheit die roten Taschen der Lehrenden und Kleinpolitiker:innen ablehnt. Was für damals außergewöhnlich ist.

Rote Taschen – eine Wortkreation unserer Mutter, die den Begriffhóngbāoeinfach wortwörtlich ins Deutsche übersetzt hat – sind auf Formosa die gängige Verpackung für Geldgeschenke. Vor allem zu Mond-Neujahr werden die roten Kuverts von den im Arbeitsleben stehenden Familienmitgliedern verschenkt. Lässt man jemandem am Arbeitsplatz eine rote Tasche zukommen, handelt es sich dabei meist um den Vers