: Ruth Schweikert
: Raphael Schweikert, Eric Bergkraut, Martin Zingg
: Fallen Sie nicht. Fliegen Sie lieber Erzählungen und Essays
: Limmat Verlag
: 9783038552949
: 1
: CHF 17.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mit dem fulminanten Erzählband Erdnüsse. Totschlagen hat Ruth Schweikert 1994 die literarische Bühne betreten. Neben vier Romanen entstanden in der Folge auch viele Texte in unterschiedlichen Genres: Kolumnen, Vorträge, Erzählungen, Essays. Dieses Buch vereinigt Texte aus drei Jahrzehnten. Manche verstreut publiziert, andere bisher unveröffentlicht. Der Bogen reicht von einer fiktiven Selbstrezension des Erstlings und einem abgelehnten Text für eine SP-Wahlkampfzeitung über Essays zu Psychiatrie und Literatur oder zur Kunst des Verpackens bis hin zu einer atheistischen Predigt. Dazu kommen drei Texte von Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern: Adolf Muschg, der frühere Lehrer an der ETH, Katharina Hacker, die Kollegin auf Augenhöhe, und die Schriftstellerin und Bäuerin Noëmi Lerch, Arbeitspartnerin auf der letzten Strecke.

Ruth Schweikert (1964-2023) wurde in Lörrach geboren und ist in Aarau aufgewachsen. Nach ihrem Debüt «Erdnüsse. Totschlagen» veröffentlichte sie die Romane «Augen zu», «Ohio» und «Wie wir älter werden» und zuletzt 2019 die literarische Recherche «Tage wie Hunde». Ruth Schweikert war Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim, ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis der Schweizerischen Schillerstiftung oder dem Solothurner Literaturpreis.

Die Fräuleins 2


Es handelt sich um die frühe Fassung der Erzählung, die später unter dem TitelPort Bou im BandErdnüsse. Totschlagen erschienen ist.

Schicksal und Charakter werden gemeinhin als kausal verbunden angesehen und der Charakter wird als eine Ursache des Schicksals bezeichnet.

Irgendwie war sie wieder zum Fräulein geworden. Sie hatte doch im Kopf die richtige Vorstellung. Jetzt war sie bald siebenundzwanzig, bald wie ihre Mutter, eine Grenzgängerin aus dem Badischen 1957, angestellt in einer Basler Baufirma als Sekretärin. Natürlich ein Fräulein, auch sie. Die adoleszenten Pickel hatten sich bereits nach innen gewendet, sie war eben erwachsen, an Haut und Knochen aus dem Kinderbett gewachsen; des Nachts schlief sie im ehemaligen Eheschlafzimmer der Eltern, in Vaters Bett, an des toten Vaters Stätte, neben ihrer leise schnarchenden verwitweten Mutter, und ihr fahles aschblondes Haar zeigte Spuren von Grau. Die Herren im Büro, Familienväter alle, machten sich manchmal einen Spaß daraus, ihr biedermeierliches Wesen mit Seitensprunggeschichten zu erschüttern.

Der Gedanke, welcher dabei zugrunde liegt, ist folgender: wäre einerseits der Charakter eines Menschen, d. h. also auch seine Art und Weise zu reagieren, in allen Einzelheiten bekannt und wäre andererseits das Weltgeschehen bekannt in jenen Bezirken, in denen es an jenen Charakter heranträte …

Sie, die Tochter, die jetzt dann siebenundzwanzigjährig wurde, hatte irgendwann, mitten in einem dieser schwülen Hochsommertage, aufgehört, sich die Zähne zu putzen. Sie dachte sich dabei nichts; aber unablässig wippte ihr Körper zur Melodie eines Kinderliedes: die Zähne sind zum Küssen da, zum Küssen da, zum Küssen da; dazu fügten sich als eine zweite, schrille Stimme Penthesileas Worte: Küsse, Bisse, das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen.

Des Fräuleins Zähne waren in dieser Hinsicht arbeitslos, seit Längerem, seit fünfzehn Jahren schon, seit dem letzten Vaterkuss, der ihr als Tochter galt, und somit handelte sie unzweifelhaft ökonomisch in dieser Hochsommerhitze, verstaute die Zahnbürste zuoberst im Spiegelschrank und überließ ihr einziges riesigrotes Badetuch langsam dem Schimmel.

… so ließe sich genau sagen, was jenem Charakter sowohl widerfahren als von ihm vollzogen werden würde. Das heißt, sein Schicksal wäre bekannt. Soweit Walter Benjamin, den sie nie gelesen hatte, bis auf ein kurzes Zitat, das eines Morgens auf ihrem Kantonsschülerinnenpult gelegen hatte, das war vor acht Jahren gewesen. Benjamin war am selben Tag wie sie geboren, wenn auch über siebzig Jahre und zwei Weltkriege früher, und sie wählte sich für die Lösung ihres verknoteten Schicksals Benjamins letzten Lebens- und Todesort; oder vielleicht war eben dieses ihrSchicksal eine Täterin, eine handelnde Instanz, die sie dorthin verschlug, an diesen trostlosen spanischen Grenzort.

Das Fräulein von 1957 nahm in jener Hochsommerzeit ihren ersten Kuss in Empfang. Sie hatte Jutta während der obligaten Jungmädchentortur im Welschland kennengelernt, an einem von zwei freien Wochenenden, die ihr von ihrer Madame während des ganzen Jahres gestattet wurden; mit ihrer Freundin Jutta also war sie nach Spanien gefahren, eine begleitete Carreise mit Kuoni, das leisteten sie sich, es waren ihre ersten eigenen Ferien, e