: Elena Winter
: Im Orbit Roman
: Müry Salzmann
: 9783990142806
: 1
: CHF 16.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 171
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wie in einer Weltraumkapsel fühlt sich Leonie Warmers in ihren vier Wänden: außerhalb von Raum und Zeit, geschützt vor dem, was sie umgibt. Tagsüber, in 'der Company', erträgt sie als Auszubildende die Anzüglichkeiten ihres Chefs. Nachts surft sie in Gesundheits-Foren, tauscht sich aus über Symptome, von stechenden Schmerzen im Fersenbein bis hin zu nächtlichem Schlafwandeln. Leonie fühlt sich fremd in ihrem Körper. Lässt sich vom Arzt ein Dutzend Elektroden auflegen. Irgendwas muss da doch zu finden sein? Das hofft auch ihre Mutter, wenn sie auf Dating-Plattformen nach einem neuen Mann sucht. Über ihren Vater weiß Leonie nicht recht viel mehr, als dass er Erbsensuppe hasste und ein Langweiler war. Leonie imaginiert ihn sich als Straßenmusiker, Lucky Luke, jedenfalls als eine 'coole Sau'. Dann wird die Umlaufbahn ihrer Kapsel durchkreuzt, von einer Obdachlosen, die ihr 'Quartier' vor Leonies Wohnungstür aufgeschlagen hat, vor allem aber von Torsten ohne h, ihrem Kollegen in der Company. Auf einmal beginnt Leonies Raumschiff zu schweben, völlig schwerelos...

Elena Winter wurde 1980 in Recklinghausen, Nordrhein-Westfalen, geboren. Sie arbeitet als freie Journalistin, Texterin und Redakteurin und lebt in Berlin. Nach ihrem Studium der Germanistik, Medienwissenschaft und Linguistik in Düsseldorf promovierte sie 2009 mit einer Arbeit über Improvisationsformate im Fernsehen. Neben Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien ist 'Im Orbit' ihr erster Roman.

EINS

Ich schätze, ich werde durchsichtig. Heute Morgen, als ich aufgewacht bin, habe ich im Bett an mir heruntergesehen. Ich habe gesehen, wie sich die Adern auf meinen Oberschenkeln abzeichnen. Es sind wilde Verästelungen von Flüssen auf einer Landkarte. Rinnsale unter der Haut. Ein paar von ihnen sind bindfadendünn, die meisten etwas größer. Es sind keine Krampfadern und auch keine Besenreiser, sagen die Leute im Forum. Nicht in meinem Alter, nicht mit dreiundzwanzig. Die Leute im Forum sagen, ich solle Faszientraining machen, viel Gemüse essen, wenig Süßes. Ich sitze am Laptop. Seit drei Stunden schreibe ich mit den Leuten, sie nennen sich KittyFit und Rund-na-und. Ich verfolge ihre Posts und gebe ab und zu meine Kommentare ab. Es ist später Abend. Ich kann nicht schlafen. Meine Haut hat einen Blaustich. Sie klebt auf meinen Adern wie der Teig von vietnamesischen Sommerrollen. Unter meiner Bauchdecke lassen sich die Eingeweide erahnen. Mein Magen, meine Gebärmutter. Den Blinddarm haben sie schon entfernt, als ich sieben war. Ich könnte eine Anatomiepuppe abgeben. Von meinen Brustwarzen aus laufen die Adern strahlenförmig nach außen. Heute Morgen habe ich im Spiegel entdeckt, dass auch an meinen Schläfen und unter den Ohrläppchen die Blutbahnen zu erkennen sind. Sie führen nach oben Richtung Hirn. Mein Hirn ist unsichtbar, denn ich habe dichtes Haar. Was man von meinem Hirn mitbekommt, sind Worte und Taten, die vermuten lassen, dass es ordnungsgemäß arbeitet.

Effizienz ist das Stichwort, höre ich immer wieder. Dazu braucht es Hirn. Ohne könnte ich meinen Job nicht machen. Schalten Sie Ihr Gehirn ein! Und keine Kontrollverluste, Frau Warmers. Manchmal sieze ich mich selbst. In der Company wird sich geduzt. Die Company ist eine sehr eigene Welt. Ich bin gut darin, mich in ihr zu bewegen und dabei nicht aufzufallen. Ich bin gut darin, zum richtigen Zeitpunkt zu lächeln. Noch 17 Monate, dann ist die Ausbildung vorbei. Aber so weit denke ich gar nicht. Was mich denn eigentlich interessiere, fragt Mama mich oft.

Im Forum diskutieren sie jetzt über ayurvedische Kräuter. Hanna73 hat sich erkundigt, ob es, wenn man die nimmt, zu Unverträglichkeiten oder unerwünschten Nebenwirkungen kommen kann. Ich schätze, da bin ich Expertin. Also schreibe ich in die Gruppe: Da wäre ich vorsichtig. Was ich nicht schreibe, weil ich keine Lust auf einen längeren Chat habe und Hanna73 auch nicht verunsichern will: Meine Ayurveda-Therapeutin hat mir vor ein paar Monaten empfohlen, dreimal täglich vier Rasayanas-Kapseln einzunehmen. Sie meinte, damit könnte ich die Schmerzen in der Bauchgegend und im Rücken behandeln, die mich seit Monaten verfolgen. Mein Hausarzt hat aufgegeben, er kann sich meine Krankheit nicht erklären. Es fühlt sich an wie kurz vorm Zerrissen-Werden. Als ob vor und hinter mir jemand stünde und die beiden sich ein Tauziehen um meine Organe lieferten. Ich schwanke, aber ich halte stand. Die Kapseln allerdings waren genau die falsche Medikation, sie haben meinen Körper erst recht durcheinandergebracht. An den ersten zwei Tagen konnte ich vor Schmerzen nicht aufstehen und habe mich krank gemeldet. Ich habe das Medikament abgesetzt und meine Ernährung umgestellt. Zwei Wochen lang habe ich nur warmen Getreidebrei mit Obst zu mir genommen. Morgens. Mittags. Und abends vor 18 Uhr. In der Company hat man mich belächelt, wenn ich in der Küche stand und mir meine Flocken mit heißem Wasser aufgegossen habe. Dabei hat es nicht einmal geholfen. Meine Schmer