: Flora S. Mahler
: Die Zeitforscherin Roman
: Müry Salzmann
: 9783990142790
: 1
: CHF 16.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 160
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In den Süden geht die Reise, nach Kärnten, zum Begräbnis der Großmutter. Ina fährt bei ihrem jüngeren Bruder und dessen neuer Freundin mit. Lieber fliegt sie, und zwar ostwärts, in Richtung der Erdrotation. Als Kind schon von Zahlen, Reihen und Mustern fasziniert, wurde Ina Zeitforscherin und weiß: Je höher die Geschwindigkeit, desto langsamer vergeht die Zeit, bis vielleicht irgendwann die Vergangenheit zur Gegenwart wird, ein bestimmter Augenblick wiederkehrt... Seit ihre Mutter vor zehn Jahren starb, hat Ina sich zurückgezogen, verliert, so sorgt sich die ältere Schwester, zusehends den Boden unter den Füßen. Dann streicht beim Stopp auf einer Raststation plötzlich eine Katze herum, und auf die Wirklichkeit ist kein Verlass mehr. Was passiert, wenn die Tür zwischen der Welt der Lebendigen und jener der Toten einen Spaltbreit offen bleibt? Würfelt Gott doch? Und wer ist Miranda? Was als Roadtrip beginnt, entpuppt sich als brillantes Vexierspiel, in dem die Grenzen zwischen den Welten und den Zeiten verschwimmen. Flora S. Mahler vertäut das Ganze an einer starken Mutter-Tochter-Geschichte, die vor Augen führt, was Frau-Sein bedeutet, über die Generationen hinweg. Aus der männlichen Ahnengalerie grüßen, neben Einstein, Erwin Schrödinger und Alfred Jarry. Im Innersten ist die Welt ungewiss. Soviel, immerhin, ist sicher.

Flora S. Mahler wurde 1975 in Wien geboren. Sie studierte Philosophie und Germanistik. Ihre literarischen Texte wurden in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht, unter anderem in 'Literatur und Kritik' und 'die Rampe'. Seit 2005 arbeitet sie als bildende Künstlerin im Kollektiv Asgar/Gabriel. Im Jahr 2021 erschien ihr Romandebüt 'Julie Leyroux' beim Verlag Müry Salzmann.

„In unserer Familie sind die Erstgeborenen weiblich“, erkläre ich der neuen Freundin meines Bruders vom Rücksitz aus, den Kopf ans Fenster gelehnt, das leicht beschlägt und das heutige Datum sichtbar werden lässt, das ich vor zwei Stunden, kurz nach der Ausfahrt aus Wien, auf die Scheibe gemalt habe.2/9/22.Auch zuhause schrieb ich es, frühmorgens, frisch geduscht, auf den vom Wasserdampf blind gewordenen Badezimmerspiegel.

Ich habe schlecht geschlafen und weil ich friere, wenn ich müde bin, so lange geduscht, bis der Boiler leer war. Er ist fassgroß und hängt bedrohlich wie eine Gewitterwolke über dem Allibert. Beim Zähneputzen die Angst, der Himmel fällt mir auf den Kopf. Allibert. Ein Wort, geheimnisvoll wie die Schmuckkästchen meiner Mutter. Seit Jahren habe ich es nicht mehr gehört. Außer Mama hat es niemand verwendet. Ich sehe sie, den Föhn in der Hand, einen Lockenwickler zur Probe lösen. Er fällt auf das Handtuch, das sie ins Waschbecken gelegt hat, damit die Wickler nicht nass werden und kein Soldat aus der Armee filigraner altrosa Halternadeln, die ihren Kopf überzieht, in den Abfluss rutscht und das Rohr verstopft. Sie öffnet die verspiegelten Badezimmerschranktüren. Der Geruch von Taft. Auf der L’Oréal-Spraydose das Portrait ­einer Frau mit langer, wie von einem Windstoß aufgewirbelter Mähne. Eine Haarpracht, von der Frauen und Mädchen träumen. Eine Frau wie meine Mutter und ein Mädchen wie ich. Denn unser Haar ist dünn. Das ist erblich bedingt. Wer dünne Haare hat, kann nicht jede Frisur tragen. Für mich gilt, nicht länger als schulterlang und einen Pony, der die hohe Stirn bedeckt. Mama trägt ihr Haar kurz und verzichtet nach drei Schwangerschaften auf Blondierungen. Verlorenes Volumen kompensiert eine Dauerwelle. Wenn sie aus der Dusche steigt, hat sie Locken, klein wie die, die sie in Geschenkbänder macht, indem sie die Enden mit Druck über den Schaft einer Schere zieht. Ich finde sie wunderschön und verstehe nicht, wieso sie auf große Wickler gelegt, ausgeföhnt, toupiert und mit Taft fixiert werden müssen. Trotzdem sehe ich fasziniert dabei zu.

Auf dem Hochzeitsfoto ist Mamas Zopf unterm Schleier hüftlang. Als sie mir, die Wickler aus dem Becken räumend, von dem Haarteil erzählt, das in ihn eingearbeitet war, bin ich so enttäuscht, dass ich aus dem Bad laufe. Zum Frisör im Ort habe ich sie trotzdem weiterhin begleitet, und sie hat mich gern mitgenommen. Ich war beliebt, bei den Lehrlingen, ­denen ich beim Aufkehren half, und der Chefin, die sich eine Tochter wünschte und mich mit Schoko­lade verwöhnte. Ich mag Süßes, doch Pikantes ist mir lieber. Also schickte Mama mich eines Tages, als sie unter der Trockenhaube saß, ein paar Straßen weiter zum Fleischer. Ich war alt genug, ohne sie einkaufen zu ­gehen. Und merkte mir.Nicht mehr als fünf Deka. Fünf. Primzahl. Eine Folge, für die ich mit sechs schon ein Wort hatte, nicht aber für die Angst, die mich draußen überfiel und ausfünfundPrimzahlfünfte Primzahl machte. So habe ich im Laden eine Semmel mit elf Deka Extrawurst verlangt. Und bekommen.

Mama und Chefin wollten, dass ich das Wurstsemmelmonster mit ihnen teile. Die Lehrlinge lachten, da hat mich der Ehrgeiz gepackt, und ich habe es ganz