„In unserer Familie sind die Erstgeborenen weiblich“, erkläre ich der neuen Freundin meines Bruders vom Rücksitz aus, den Kopf ans Fenster gelehnt, das leicht beschlägt und das heutige Datum sichtbar werden lässt, das ich vor zwei Stunden, kurz nach der Ausfahrt aus Wien, auf die Scheibe gemalt habe.2/9/22.Auch zuhause schrieb ich es, frühmorgens, frisch geduscht, auf den vom Wasserdampf blind gewordenen Badezimmerspiegel.
Ich habe schlecht geschlafen und weil ich friere, wenn ich müde bin, so lange geduscht, bis der Boiler leer war. Er ist fassgroß und hängt bedrohlich wie eine Gewitterwolke über dem Allibert. Beim Zähneputzen die Angst, der Himmel fällt mir auf den Kopf. Allibert. Ein Wort, geheimnisvoll wie die Schmuckkästchen meiner Mutter. Seit Jahren habe ich es nicht mehr gehört. Außer Mama hat es niemand verwendet. Ich sehe sie, den Föhn in der Hand, einen Lockenwickler zur Probe lösen. Er fällt auf das Handtuch, das sie ins Waschbecken gelegt hat, damit die Wickler nicht nass werden und kein Soldat aus der Armee filigraner altrosa Halternadeln, die ihren Kopf überzieht, in den Abfluss rutscht und das Rohr verstopft. Sie öffnet die verspiegelten Badezimmerschranktüren. Der Geruch von Taft. Auf der L’Oréal-Spraydose das Portrait einer Frau mit langer, wie von einem Windstoß aufgewirbelter Mähne. Eine Haarpracht, von der Frauen und Mädchen träumen. Eine Frau wie meine Mutter und ein Mädchen wie ich. Denn unser Haar ist dünn. Das ist erblich bedingt. Wer dünne Haare hat, kann nicht jede Frisur tragen. Für mich gilt, nicht länger als schulterlang und einen Pony, der die hohe Stirn bedeckt. Mama trägt ihr Haar kurz und verzichtet nach drei Schwangerschaften auf Blondierungen. Verlorenes Volumen kompensiert eine Dauerwelle. Wenn sie aus der Dusche steigt, hat sie Locken, klein wie die, die sie in Geschenkbänder macht, indem sie die Enden mit Druck über den Schaft einer Schere zieht. Ich finde sie wunderschön und verstehe nicht, wieso sie auf große Wickler gelegt, ausgeföhnt, toupiert und mit Taft fixiert werden müssen. Trotzdem sehe ich fasziniert dabei zu.
Auf dem Hochzeitsfoto ist Mamas Zopf unterm Schleier hüftlang. Als sie mir, die Wickler aus dem Becken räumend, von dem Haarteil erzählt, das in ihn eingearbeitet war, bin ich so enttäuscht, dass ich aus dem Bad laufe. Zum Frisör im Ort habe ich sie trotzdem weiterhin begleitet, und sie hat mich gern mitgenommen. Ich war beliebt, bei den Lehrlingen, denen ich beim Aufkehren half, und der Chefin, die sich eine Tochter wünschte und mich mit Schokolade verwöhnte. Ich mag Süßes, doch Pikantes ist mir lieber. Also schickte Mama mich eines Tages, als sie unter der Trockenhaube saß, ein paar Straßen weiter zum Fleischer. Ich war alt genug, ohne sie einkaufen zu gehen. Und merkte mir.Nicht mehr als fünf Deka. Fünf. Primzahl. Eine Folge, für die ich mit sechs schon ein Wort hatte, nicht aber für die Angst, die mich draußen überfiel und ausfünfundPrimzahlfünfte Primzahl machte. So habe ich im Laden eine Semmel mit elf Deka Extrawurst verlangt. Und bekommen.
Mama und Chefin wollten, dass ich das Wurstsemmelmonster mit ihnen teile. Die Lehrlinge lachten, da hat mich der Ehrgeiz gepackt, und ich habe es ganz