Das wichtigste Ziel des Liberalismus drückt sich schon im Wort selbst aus: Freiheit. Dank seines grundlegenden Bekenntnisses zum tief in der menschlichen Seele verankerten Freiheitswillen hat sich der Liberalismus als attraktiv und belastbar erwiesen. Sein historischer Aufstieg und seine weltweite Anziehungskraft sind kaum zufällig. Er hat vor allem Menschen angesprochen, die Willkürherrschaft, Ungleichheit, Ungerechtigkeit und anhaltender Armut ausgesetzt waren. Keine andere politische Philosophie hat in der Praxis für größeren Wohlstand und eine relative politische Stabilität gesorgt und so geregelt und planmäßig die Freiheit des Einzelnen gefördert. Es gab also plausible Gründe dafür, dass Francis Fukuyama 1989 erklärte, die lange Debatte über ideale Regime sei beendet und der Liberalismus die Endstation der Geschichte.
Freilich hat der Liberalismus die menschliche Sehnsucht nach Freiheit nicht entdeckt oder erfunden: Das Wortlibertas ist schon alt, und die Verwirklichung der Freiheit war seit den ersten Streifzügen in die politische Philosophie im antiken Griechenland und Rom ein vorrangiges Ziel. Die Gründungstexte der westlichen politischen Philosophie konzentrierten sich insbesondere auf die Frage, wie der Impuls zur Tyrannei und ihre Durchsetzung zu verhindern seien. Bezeichnenderweise sahen sie in der Kultivierung von Tugend und Selbstbeherrschung die wichtigsten Korrektive dagegen. Vor allem die Griechen betrachteten die Selbstverwaltung als das verbindende Moment zwischen Individuum und Gemeinwesen. Ihre Verwirklichung galt als möglich, wenn beide Pole – jedes Individuum und das Gemeinwesen als Ganzes – die Tugenden der Besonnenheit, Weisheit, Mäßigung und Gerechtigkeit gemeinsam hochhielten und förderten. Selbstverwaltung in der Stadt war nur möglich, wenn Selbstverwaltung die Bürger regierte; und dies wiederum war nur in einer Stadt zu verwirklichen, die begriff, dass die Staatsbürgerschaft selbst – im Gesetz wie in den Bräuchen – eine Art fortwährende Einübung dieser Tugenden darstellte. Die griechische Philosophie sah diepaideia, die Erziehung zur Tugend, als einen der besten Wege, der Entstehung von Gewaltherrschaft vorzubeugen und die Freiheit der Bürger zu schützen. Neben diesen Überlegungen gab es allerdings auch (und nicht immer einfache) Rechtfertigungen für Ungleichheit. Beispielhaft dafür ist neben dem Ruf nach einem weisen Herrscher aus einer Herrscherklasse auch die Beibehaltung der Sklaverei.
Die philosophischen Traditionen Roms und des christlichen Mittelalters hielten an der Kultivierung der Tugend als wichtigsten Schutz vor Tyrannei fest, entwickelten aber auch institutionelle Strukturen, die die Macht der Herrscher überwachen und – in unterschiedlichem Grad – Möglichkeiten einer informellen, mitunter formellen Einbeziehung der öffentlichen Meinung in die politische Herrschaft bieten sollten. Viele institutionalisierte Regierungsformen, die wir heute mit dem Liberalismus in Verbindung bringen, waren zumindest im Kern bereits jahrhundertelang vor der Neuzeit entwickelt worden, darunter Konstitutionalismus, Gewaltenteilung, die Trennung von Kirche und Staat, Rechte und Schutz gegen Willkürherrschaft, Föderalismus, Rechtsstaatlichkeit und die Beschränkung der Staatsgewalt.1 Der Schutz der Personenrechte und der Glaube an die Unantastbarkeit der Menschenwürde waren, wenn auch nicht immer konsequent a