: Annemarie Andre
: Nacktschnecken Roman
: Müry Salzmann
: 9783990142738
: 1
: CHF 16.10
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 223
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Schleimspuren hinterlassen bei den Leitners nur die Schnecken im Garten. Schleimige Menschen mögen sie nicht, genauso wenig wie solche, die tagsüber vor dem Fernseher sitzen, das machen nur die Faulen. Prinzipien haben sie, die Leitners, und keinen Genierer, sich ihre Billigsdorfer-Mentalität zugute zu halten: keinen Cent zu viel ausgeben, nicht so wie die anderen, die das Geld beim Fenster hinauswerfen! Charlotte, die Nachzüglerin, merkt früh, dass sie weniger hat als andere Kinder. Vor allem wird ihr ständig gesagt, was sie nicht hat: einen Vater. Es ist die Mutter, die alles am Laufen hält. Bis eines Tages ein Aneurysma in ihrem Gehirn platzt. Die Folgen: 50-prozentige Behinderung, Kündigung, Arbeitsamt. Die beiden erwachsenen Halbgeschwister ziehen aus, ein alkoholsüchtiger Mann ein, und Charlotte muss sich damit abfinden, dass ihre Familie nun noch weniger in das Wertesystem der konservativen Kleinstadt passt als zuvor... An den sozialen Klassen haben sich viele abgearbeitet, Annemarie Andre tut es in ihrem Romandebüt Nacktschnecken mit einem raffinierten Kniff: aus der Sicht eines Kindes, das seine Welt nimmt, wie sie ist, sie nicht in Beziehung setzt, nicht wertet, und seine Mutter, die nicht ist wie andere Mütter, dabei noch gut aussehen lässt - das zeugt von großer Klasse! Auszug aus Nacktschnecken Annemarie Andre Dieses Material ist möglicherweise urheberrechtlich geschützt.

Annemarie Andre wurde 1994 in Waidhofen an der Ybbs geboren. Sie lebt und arbeitet in Wien und Amsterdam. Studium der Kunstgeschichte, anschließend Journalismus und neue Medien in Wien. Journalistische Beiträge in den Tageszeitungen Der Standard und Die Presse und im Kunstmagazin Parnass, literarische Veröffentlichungen u. a. in die Rampe, etcetera. Preise: Finaleinzug im Teambewerb bei den Deutschsprachigen Poetry Slam Meisterschaften 2015; LitArena 2015, 3. Platz; Junges Literaturkarussell Niederösterreich 2014, 1. Platz. 'Nacktschnecken' ist ihr erster Roman. Für das Manuskript erhielt sie 2022/23 das Hans-Weigel-Literaturstipendi m. Auszug aus Nacktschnecken Annemarie Andre Dieses Material ist möglicherweise urheberrechtlich geschützt.

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Heute Morgen erstickte ich beinahe. Ich war auf einem Flug in den Süden, Marcels Arme und Beine waren mein Flugzeug und schaukelten und rüttelten mich auf und nieder. Bildfetzen aus Fernsehzeitschriften rauschten in Sekundenschnelle an mir vorbei. Haare, roter Lippenstift, Busen. Wie im Daumenkino. Wenn Marcel mich hoch hinaufwarf, konnte ich sogar den Genagelten am Kreuz sehen. Guter Gott, wir bitten dich, erhöre uns. In der Tiefe roch es nach zermalmten Bananen und Wurstsalat.

Zum Frühstück aß Marcel immer Wurstsalat mit Zwiebeln, bei dessen Geruch mir mein Müsli in großen Brocken fast bis hinauf in die Backen schoss und ich es noch mal, aber fester, hinunterschlucken musste. Nach dem Frühstück holte Marcel das rot-blau karierte Notizbuch aus seinem Zimmer, schlug es auf und nahm sich eine Banane. Bevor er sie aß, kletzelte er den Aufkleber herunter, verglich ihn mit den anderen in seinem Buch und beurteilte ihn. Ich liebte es, ihm dabei zuzusehen. Marcel war wie ein Fernseh-Richter, der in wenigen Minuten das Urteil der Bananenschale verkünden würde. Fünf Jahre Haft für diesen Aufkleber, der es sich anmaßte, wie alle anderen Aufkleber auszusehen. Trotzdem klebte Marcel ihn in sein Büchlein. Die Freude, dass er sich die Zeit so kostengünstig vertreiben konnte, sah ich ihm an.

Gleich würde er seine Rede beginnen: Weißt du, Charlotte, andere brauchen einen sündteuren Riesen-Fern­seher, nein sogar zwei, einen Gameboy und was weiß ich noch alles, um glücklich zu sein. Aber wir, wir sind die Billigsdorfer-Leitners, da ist das Günstigste gerade am besten. Ich wusste zwar, dass ich Leitner mit Nach­namen hieß. Das musste ich für Mama auswendig lernen. Jeden Morgen, bevor ich in die Schule ging, zwang sie mich, den Namen inklusive der Haustelefonnummer aufzusagen. „Damit du nicht verschleppt wirst wie die eine aus Wien“, sagte Mama und rief mir noch vom Balkon herunter: „Und wenn du einen weißen Lieferwagen siehst, dann rennst du schnell daran vorbei.“ Was aber Billigsdorfer hieß, wusste ich nicht. Ich reimte mir zusammen, dass es wohl ein Ort war, in dem alles besonders billig war und niemand Geld ausgeben musste beim Einkaufen. Das war aber bei uns nicht so. Darum sah ich Marcel oft, wie er hinter dem Supermarkt bei den Mistkübeln stand und Lebensmittel herausfischte, die man noch essen konnte. Dabei setzte er denselben Gesichtsausdruck auf, den er hatte, wenn er die Bananenschalen-Aufkleber in sein Buch klebte. Ich war fasziniert von diesem Buch mit den vielen unterschiedlichen Aufklebern und Farben. Wenn Marcel einen guten Tag hatte, durfte ich es mir anschauen. Grün, weiß, gelb, rot, manche Aufkleber waren einfarbig, andere hatten Muster und waren mit Text versehen. Ich malte mir aus, dass das die kostbarsten Exemplare in Marcels Sammlung waren. Oft dachte ich mir, wie klug es von ihm war, die Aufkleber bereits jetzt zu sammeln, wo das noch niemand tat. Wenn es irgendwann alle täten, könnte er sie gegen viel Geld abtreten. „Dann kauf ich uns ein Schloss, in dem wir wohnen“, sagte Marcel und lachte. Nachdem er den Aufkleber eingeklebt und mit aktuellem Datum versehen hatte, schälte er die ­Banane. Dabei nahm er sich Zeit, es gehörte zu seinem Ritual. Dann biss er ab. Marcel aß eine Banane ganz anders als Mama. Bei ihr musste es schnell gehen. In maximal vier Bissen war die Banane weg, und die Schale landete im Müll. Marcel jedoch nahm kleine Häppchen und zermalmte sie, so hatte er länger was davon. Auch das gehörte zu der von ihm ins Leben gerufenen Billigsdorfer Mentalität. Reiche Leute bräuchten immer etwas Besonderes, eine teure Delikatesse. Was, das wusste Marcel selbst nicht genau, aber er wusste, dass für ihn einfaches Obst ausreichte und er dabei sogar noch sparte.

„Höher, höher“, rief ich Marcel zu, um dem Geruch von Bananenmatsch zu entgehen. Immer wieder hörte ich Mamas Räuspern aus der Küche. Solange sie nichts ­sagte, ignorierten Marcel und ich ihre Geräusche. Sie war eine Spielverderberin, darin waren wir uns einig. Außerdem war Marcel schon erwachsen und musste nicht auf sie hö