Kapitel 1
Sarah
Das kleine Mädchen rennt den Kiesweg hinunter zum See. Seine langen blonden Haare flattern im Wind, und als es sich bückt, um die glänzenden Kastanien aufzuheben, leuchtet das rote Kleidchen hell in der Sonne des frühen Herbstes. »Mama«, ruft es, »Mama, schau, was ich gefunden habe ... Mama, wo bist du?« Suchend wendet das Kind sich um. Und plötzlich sieht es die Mutter. Sie sitzt in einem alten Holzkahn und fährt langsam über den See, immer weiter weg von dem Ufer, weg von der Tochter, weg aus deren Leben.
Der Himmel wird dunkel, die Wellen des Sees schlagen düster gegen den schaukelnden Kahn. Die Mutter reagiert nicht auf die Rufe der Tochter, die nun in lautes Schluchzen übergegangen sind, sie wendet sich ab, ergreift die beiden Ruder, und langsam verschwindet der Kahn in der Düsternis des herbstlichen Nebels. Die Mutter ist gegangen.
*
Das eigene Schluchzen hatte Sarah geweckt, und zwischen Nacht und Tag schien es, als ströme das Leben von ihr fort, bis sie begriff, dass sie nur geträumt hatte.
Vorsichtig richtete sie sich auf. Sie konnte ihren Herzschlag in den Ohren hämmern hören, als sie sich mit beiden Händen durch die schweißnassen Haare fuhr. Doch vielleicht war es gar kein Traum gewesen, sondern die Erinnerung, die plötzlich nach fast dreißig Jahren aus dem schwarzen Nichts zurückgekehrt war. Sarah wusste noch vieles aus der Kindheit, doch der Tag, an dem ihre Mutter den Vater und sie verlassen hatte, war in ihrem Gedächtnis ausgelöscht, als hätte es diesen Tag nie gegeben. »Sie ist nach Frankreich zurückgegangen«, hatte ihr Vater damals erklärt und sie fest in die Arme genommen. Mehr sagte er nicht, und Sarah hatte auch nicht gefragt. »Die Kleine ist wirklich sehr tapfer«, hatte sie eines Abends ihr neues Kindermädchen zur Haushälterin sagen hören. Doch Sarah war nicht tapfer. Sie weinte nur, wenn niemand es sah. Sie war sicher, ihre Mutter hatte sie verlassen, weil sie, Sarah, es nicht wert war, geliebt zu werden.
Im Alter von dreizehn Jahren hatte sie sich plötzlich ein vermeintliches Unglück der Mutter zurechtgelegt, ein trauriges, geheimnisvolles Frauenschicksal vermutet, bedingt durch einen gefühllosen Ehemann. Für kurze Zeit war die Mutter zur romantischen Heldin und der Vater zu einem romanhaften Bösewicht geworden, der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts entstiegen. Doch diese Phase hatte nicht lange gedauert, und allmählich verblasste die Erinnerung an die schöne Frau, die oft so abweisend und unnahbar gewesen war. Nie sprach sie mit ihrem Vater darüber, und obwohl sie sich sehr nahestanden, hielt eine unüberwindbare Scheu beide davor zurück, über die Vergangenheit zu reden. Vater und Tochter waren sich zu ähnlich, beide konnten sie Gefühle weder zeigen noch darüber sprechen. Heute war Sarah davon überzeugt, dass er den wahren Grund kannte, warum seine Frau gegangen war. Vielleicht wollte er mit seinem Schweigen die Tochter schützen, aber nach so vielen Jahren war auch das scheinbar bedeutungslos geworden.
*
Sarah erhob sich und öffnete weit das große Fenster. Auf den Wiesen lag glitzernder Tau, und so sah der Garten aus wie nach einem Regen, obwohl die Nacht klar gewesen war und der Himmel jetzt in dem intensiven Blau eines frühen Herbstmorgens erstrahlte. Sarah blieb vor dem offenen Fenster stehen, und ihr Herz umfasste das Bild vor ihren Augen, den vertrauten Ausblick auf den Garten und die Allee mit den alten Kastanienbäumen, die hinunter zum See führte. Sarah atmete tief den Geruch von nassem Laub ein, bevor sie leicht fröstelnd das Fenster wieder schloss. Für einen Moment lehnte sie ihr Gesicht an die kühle Scheibe und hing ihren Gedanken nach. Vor einer Woche hatte sie ihren vierunddreißigsten Geburtstag gefeiert, und sie war endlich zufrieden mit ihrem Leben. Auch wenn ihre Kopfschmerzen in den vergangenen Monaten wieder verstärkt aufgetreten waren. Migräne, hatte ein Arzt vor vielen Jahren erklärt. Sie begann mit Augenflimmern und Übelkeit, bis starke Kopfschmerzen einsetzten. Psychisch bedingt, können sie immer in starken Stresssituationen auftreten, lautete damals die Diagnose des Neurologen.
Michael hatte sie vor einigen Tagen scherzend gefragt, ob das mit ihrer bevorstehenden Heirat zusammenhänge, doch als er sie dabei lachend umarmte, hatte sie in seinen Augen Unsicherheit und Sorge gesehen.
Sarah löste sich von dem Fenster, ging mit raschen Schritten hinüber in ihr Badezimmer und stellte sich unter den heißen Strahl der Dusche. Mit zugekniffenen Augen tastete sie nach dem Shampoo und erinnerte sich an den warmen Sommertag vor