: Kersten Knipp
: Die Kommune der Faschisten Gabriele D'Annunzio und die Republik von Fiume
: Dittrich Verlag
: 9783910732551
: 1
: CHF 10.80
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: Geschichte
: German
: 400
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Dies ist eine aberwitzige, eine absurde Geschichte. Die Geburtsstunde des Faschismus vor 100 Jahren. Im September 1919 besetzen 2.500 Freischärler unter der Führung des Exzentrikers, Dichters und Kriegshelden Gabriele D'Annunzio eine kleine, kroatische Küstenstadt und errichten dort auf den Trümmern des Habsburgerreichs die Republik von Fiume. Hier führen sie ein bizarres Spektakel antagonistischer Elemente auf: Militärparaden, Fackelzüge und Kriegsverherrlichung, vereint mit einem nicht abreißenden Happening von freier Liebe, Drogen und FKK. Es ist die Geschichte der Marionettenrepublik von Fiume, die von September 1919 bis Dezember 1920 ein bizarres, aus der Zeit gefallenes Fest feiert. Diese Republik von Fiume bildet den Auftakt zu einem Jahrhundert der Gewalt. Sie wird zum ästhetischen Laboratorium des Faschismus und zu einem frühen Ort der »counter culture« von 1968. In seinem historischen Essay beschreibt Kersten Knipp, wie sich all diese widersprüchlichen Aspekte zu einem gefährlichen, massenpsychotischen Populismus verbinden, und zeigt auf, wie sich an dieser erstaunlichen Episode der Beginn der Wege und Irrwege des 20. Jahrhunderts abzeichnet.

Dr. Kersten Knipp ist Romanist und Essayist. Für die Deutsche Welle verfolgt er die politische Entwicklung der arabischen Welt. Zudem arbeitet er für die Radiosender der ARD, insbesondere den WDR. In seinen Büchern beschäftigt er sich mit der Kulturgeschichte der romanischen Länder.

1. Auf dem Balkon
Der Dichter als Agitator


Der Rhythmus hat immer recht.

Gabriele D’Annunzio

»Italiener von Fiume. Hier bin ich.« Der Redner sah auf eine unüberschaubare Menschenmenge. Vom Balkon des Gouverneurspalastes überblickte er den gesamten Platz, schaute auf die zahllosen Menschen herunter, die sich vor dem Gebäude versammelt hatten. Überall standen sie, reihten sich dicht an dicht. Weil aber der Platz trotzdem nicht ausreichte, waren einige auf die Dächer der umliegenden Häuser geklettert, während sich andere wiederum an deren Fenstern drängten. Schon bei seinem Einzug in die Stadt wenige Stunden zuvor hatten seine Anhänger ihre Banner gehisst, hatten sich Musikkapellen in der Stadt verteilt, zogen die Menschen durch die Straßen, um auf ihn zu warten: Gabriele D’Annunzio, den Dichter, Schriftsteller und politischen Agitator, den Helden des soeben zu Ende gegangenen Weltkriegs, die seit Monaten ersehnte Lichtgestalt, die das Unrecht der Alliierten wiedergutmachen und Fiume, die Stadt am nordöstlichen Ufer der Adria, im heutigen Kroatien gelegen, dahin brächte, wohin sie nach Überzeugung der feiernden Menge gehörte: nach Italien. Auf den Zusammenschluss, waren sie überzeugt, hatten Stadt und Land, Fiume und Italien, ein absolutes Recht. Drei Jahre hatte Italien auf Seiten der Alliierten gekämpft und im Kampf gegen das Deutsche Kaiserreich, das Habsburgerreich und deren Verbündete zahllose Opfer gebracht. Darum wäre es nur recht und billig, Fiume als Kriegsbeute nach Italien zu holen. Zur Rechtfertigung beriefen sie sich auf den Londoner Vertrag vom April 1915. Darin hatten die Regierung in Rom und die Alliierten vereinbart, welche territorialen Ansprüche die Italiener für den Kriegseintritt stellen konnten. Nach dem Ende des Krieges, so die Vereinbarung, sollten sie die unter Herrschaft des Habsburgerreiches stehende Stadt Triest sowie das ebenfalls zu Österreich-Ungarn gehörende Istrien in ihr Staatsgebiet eingliedern können. Fiume hingegen war von der Vereinbarung ausdrücklich ausgenommen. Immer deutlicher zeichnete sich während der im Januar 1919 beginnenden Pariser Friedensverhandlungen ab, dass die Stadt zum gerade entstehenden Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gehören sollte. Das war weder hinnehmbar noch entsprach es dem Geist des Vertrages, waren die italienischen Nationalisten überzeugt.

Denn nur in Italien – und nicht in dem im Dezember proklamierten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen – hätte die Stadt ihren Platz, nur dort wäre die Zukunft Fiumes denkbar. Wozu sonst hätten die Tausenden dort lebenden Italiener den Ort in den vorhergehenden Jahrzehnten entwickeln, die Wirtschaft nach vorne bringen, die dortige Kultur auf – so hieß es – neue Höhen bringen sollen? Und wenn die Alliierten, die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, gerade in Paris die neue Ordnung entwarfen und darüber die Vorstellungen der Italiener so ungerührt ignorierten – dann wäre es an der Zeit und mehr als angemessen, die Dinge in die eigene Hand zu nehmen. Wenn überdies US-Präsident Woodrow Wilson Europa im Geiste seines »Selbstbestimmungsrechts der Völker« ordnen wollte, dann wäre es nur konsequent, ihn beim Wort zu nehmen.

Über Monate hatten die Bürger den Widerstand gegen die Pariser Beschlüsse vorbereitet. Ein eigens gegründetes Komitee hatte über verschiedene Kandidaten nachgedacht, die den Aufstand anführen könnten. Am Ende fiel die Wahl auf Gabriele D’Annunzio, den damals bekanntesten und populärsten, seit jungen Jahren als Wunderkind gehan