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In meinem Haus auf dem Land zieht sich ein Riss quer über die Decke meines Schlafzimmers. Der Riss setzt auf der linken Wand an, dann fährt er schnurgerade mittig über die Decke und verebbt schließlich im oberen Drittel der rechten Wand in einer zarten Verästelung. Auch an der Wand hinter meinem Bett klafft ein Riss, schräg unter der Ecke, etwas krumm und ohne System. Diese Risse sind schon lange da, sie beunruhigen mich nicht besonders, ich rede mir ein, sie seien oberflächlich und bedeutungslos. Ich sage mir, dass die Risse nur die Putzschicht der Wand betreffen, nicht die Mauer, die Mauer ist bestimmt intakt.
Die Risse an der Wand in dem ausgebauten Dachboden, in dem die Kinder und ihre Freunde schlafen, wenn sie auf Besuch sind, beunruhigen mich dagegen schon. Ich glaube, sie sind frisch, jedenfalls sind sie mir nie zuvor aufgefallen. Sie ziehen sich über eine Mauer, hinter der der Kamin verläuft, vielleicht ist er zu heiß geworden und hat nun einen Sprung, ich werde die Rauchfangkehrerin fragen, wenn sie demnächst kommt.
Die Rauchfangkehrerin ist neu, sie hat vom bisherigen Rauchfangkehrer übernommen, der offenbar in Rente ging und der, seit ich das Haus gekauft hatte, einmal im Jahr aufgetaucht war, immer unangekündigt. Er war mir unheimlich, er war riesig und sehr kräftig, seine männliche Präsenz dehnte sich in meiner gesamten Küche aus, während er seinen Auftragsschein ausfüllte und mich dabei ausfragte, mit säuselnder Stimme: Ich habe Ihren Mann schon lange nicht mehr gesehen. Ist er nicht mehr da? Leben Sie jetzt ganz allein hier?
Ich glaube nicht, dass er meinen Lügen glaubte, mein Mann sei gerade in der Stadt, komme am Abend wieder, der Rauchfangkehrer war ja in jedem Haus im Dorf, er wusste alles über jeden, ganz sicher wusste er, dass ich geschieden oder getrennt war, dass mein Mann nicht mehr da war und nicht mehr kommen würde und dass da zwar ein Typ hin und wieder bei mir auftauchte, aber immer nur für ein paar Tage. Die reden doch alle, ich kenne mein Dorf.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass der Rauchfangkehrer harmlos war, trotzdem war ich jedes Mal erleichtert, wenn er mein Haus wieder verlassen und ich die Tür hinter ihm versperrt hatte. Ich fühlte mich erst etwas sicherer, als ich den Hund hatte, der ihn nicht mochte, braver Hund.
Der Rauchfangkehrer säuselte den Hund an und erklärte mir, dass er auch immer Hunde gehabt habe und wie sehr er Hunde liebte, aber mein Hund liebte ihn nicht, er bellte und knurrte, ich musste ihn im Gästezimmer einsperren, bis der mächtige Rauchfangkehrer das Haus und den Garten endlich verlassen hatte und in seinen Wagen gestiegen war, und wenn ich den Hund dann rausließ, galoppierte er nach vorne zur Straße und bellte dem Rauchfangkehrer noch durch den Gartenzaun hinterher.
Ich habe dem Rauchfangkehrer nie einen Kaffee angeboten, ich wollte, dass er so schnell wie möglich mein Haus verlässt, aber seine Nachfolgerin fragte ich gleich beim ersten Mal, ob sie einen Kaffee möchte, Milch habe ich leider nicht da. Während sie mit der Tasse in der Hand in meiner Küche stand, fragte ich sie ein bisschen nach ihrem Leben, und sie erzählte mir, dass sie auf einem Bauernhof lebt, mit ein paar Tieren. Ich fragte sie nicht, ob da auch noch andere Menschen wohnen oder ob sie Kinder hat, geht mich alles nichts an. Aber der Hund mochte die neue Rauchfangkehrerin. Wenn sie kam, bellte er nur sein kurzes Warnbellen, und sobald er sie erkannte, machte er sich rund und wedelte vor ihr herum. Es war der Tanz, den der Hund nur für diejenigen aufführt, die er mag und liebt.
Nächstes Mal werde ich die Rauchfangkehrerin nach dem Riss an meiner Kaminwand fragen, ich darf es nicht vergessen. In der Zwischenzeit habe ich einen weiteren Riss entdeckt, im Putz der Wohnzimmerwand, an die ich vor ein paar Wochen endlich ein paar Bilder hängte. Jahrelang, seit das Wohnzimmer neu gestrichen worden war, hatte ich es nicht gewagt, die schönen weißen Wände dadurch zu ruinieren, dass ich Nägel einschlug, die den Putz ruinierten und zu riesigen Kratern wurden. Schließlich half mir Therese, die kann das, sie hat die nötige Entschlossenheit für so was, die Bilder hängen jetzt, und dahinter sieht man nicht die Löcher von den Nägeln, die ich schief und krumm in die Wand geschlagen habe.
Aber auch sonst macht mein Haus Sachen. Im Vorzimmer bricht der Estrich neuerdings an den Rändern ein, der Schuppen kommt mir schiefer vor als früher, die hölzernen Treppenstufen, die ins Dachgeschoss führen, scheinen sich aus ihrer Verankerung zu schieben, das macht mir alles Sorgen. Und der letzte Sturm knickte den hohlen Apfelbaum, in dem immer die Buntspechte nisteten, und fegte ein paar Dachziegel in den Hof. Ich mache mir Sorgen um mein Haus.
»Ich mache mir Sorgen um mein Haus«, sagte ich, als Alfred mir Holz brachte. Alfred ist mein Nachbar, er ist Bauer. Er hat Kühe, er hat Felder, er hat Wald, er kümmert sich um das alles allein, ich weiß nicht, wie er das schafft. Ich zeigte ihm die Dachziegel, und er nickte.
»Brauchst einen Dachdecker«, sagte Alfred.
»Ich weiß«, sagte ich, »ich habe schon den Tischler gefragt, als er letzte Woche da war, der kennt einen, ich ruf den nächste Woche an.«
Ich zeigte Alfred auch den kaputten hohlen Baum, von dem er noch vor ein paar Wochen behauptet hatte, der sei hier schon hohl gestanden, als er noch ein Kind gewesen war, der werde hier noch hohl stehen, wenn er ein Greis sei. Aber die Stürme sind stärker geworden, in den vielen Jahren, seit Alfred und ich Kinder waren. Der Sturm hatte den Baum unter der Krone geknickt, und die Krone ragte nun schief über meine Hängematte, die ich zwischen den Bäumen aufgespannt habe und nie benutze, eigentlich ist sie reine Deko. Nur der Baum gegenüber hinderte die Krone am endgültigen Abstürzen. Wir stapften um mein Haus herum und in meine Wiese, und ich zeigte auf den halb umgestürzten Baum.
»Gefährlich«, sagte Alfred und ging um den Baum herum, »so kann man das nicht lassen. Ich hole die Säge.«
»Kommst du nicht zu spät zum Mittagessen«, sagte ich.
»Ich hab noch zwanzig Minuten«, sagte Alfred, während er auf sein Handy sah, »passt schon«, und dass ich ihm inzwischen eine Trittleiter bringen soll. Er stapfte weg und kam mit einer kleinen Kettensäge zurück, kaum größer als die, die ich selbst besitze. Er ruckelte die Trittleiter in eine stabile Position, stieg rauf und sägte den oberen Teil des Baumes weg. Ich schaute ihm zu, wie er das machte, er brauchte nicht mal Schutzkleidung oder so einen Gesichtsschirm, wie ich einen habe. Er weiß, wie das geht, er hat das schon Tausende Male gemacht. Während Alfred sägte, dachte ich an eine Szene, die ich einmal in einem Roman geschrieben hatte, in der eine Frau einen Ast absägt, mit einer Säge, die sie aus einer Akku-Halterung nimmt. So macht man das nicht, mittlerweile weiß ich das, es gibt keine Akku-Halterung, der Akku steckt auf der Säge, während man sie benutzt, weiß jeder, weiß ich jetzt auch, seit ich selbst so eine Säge besitze. Sie liegt im Schuppen am obersten Regal. Ich fürchte mich ein wenig vor der Säge, trotz der Schutzkleidung, die ich trage, wenn ich sie doch einmal benutze. Mir ist es lieber, Alfred macht das, der kann es.
Alfred sägte den Baum so zurecht, dass ich die Hängematte weiterhin daran hängen konnte, und dann zersägte er den am Boden liegenden Rest in kurze Stücke, die ich irgendwann verheizen kann. Zwei dünne Äste, die seitlich aus dem Baumrumpf wuchsen und gesund aussahen, ließ er stehen. Es sah traurig aus.
»Der erholt sich«, sagte Alfred.
»Glaubst«, sagte ich, »sieht traurig aus.«
»Wirst schon sehen in ein paar Wochen. Äpfel wirst heuer keine mehr haben, aber vielleicht nächstes Jahr.«
Dann zeigte er mir seine Kettensäge und den neuen Super-Akku, den er sich gerade gegönnt hatte.
»Rat, was der gekostet hat.«
Ich betrachtete die Säge und den Akku, ich riet einen Betrag — zweihundertfünfzig Euro? —, und weil ich jetzt selber eine ähnliche Säge habe, lag ich mit meiner Schätzung gar nicht weit daneben; so gewinnt man als Städterin den Respekt der ländlichen Bevölkerung. Während Alfred mit seiner Säge nach Hause zum Mittagessen ging, begann ich, mit der Schubkarre den zusammengesägten Baum wegzuräumen, kippte die...